Geschichte: Der Amtsantritt Gorbatschows

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    In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre schien die Sowjetunion ihr Imperium endgültig stabilisiert zu haben: Die deutsche Teilung war unter Dach und Fach, das 1945 unterworfene Terrain in Ostmittel- und Südosteuropa gesichert. Bis auf Rumäniens exzentrischen "Conducator" Ceausescu, dem man die eine oder andere Kapriole nachsah, standen alle Satelliten getreulich zur "Breschnew-Doktrin", die die Unterordnung der Souveränität der sozialistischen Einzelstaaten unter das Interesse des Ostblocks, sprich: Moskaus, zum Inhalt hatte.


    Nur Jugoslawien, das unter Marschall Tito 1948 den offenen Bruch mit Stalin gewagt und einen "eigenen Weg zum Sozialismus" eingeschlagen hatte, und die Volksrepublik China verweigerten sich im "sozialistischen Lager" nach wie vor dem sowjetischen Hegemonieanspruch. Der "große Steuermann" Mao Tse-Tung, der 1949 die Kommunisten im Bürgerkrieg mit den Nationalchinesen unter General Tschiang Kai-schek zum Sieg geführt hatte, war nach der Chruschtschowschen "Entstalinisierung" auf Distanz zu dem seither "revisionistisch" und "sozial-imperialistisch" genannten Sowjetreich gegangen. Der Konflikt zwischen den beiden "roten Riesen" hatte sich im März 1969 in Grenzgefechten am Ussuri entladen. Als dann 1972 das Photo vom Händedruck des US-Präsidenten Nixon mit Mao durch die Welt gegangen war, machte das Schlagwort von einem neuen "Mächtedreieck" die Runde; die Entspannungsbereitschaft der Sowjetunion mit dem Westen war durch Chinas Öffnung nach dem Osten (also von Peking aus gesehen zu Amerika und Westeuropa hin) jedenfalls erhöht worden.


    Was die Vernichtungskapazität betraf, mochte das Bild vom Mächtedreieck Washington-Moskau-Peking stimmen, aber es verstellte den Blick auf die zwei ökonomischen Riesen, die in den (aus der Perspektive von 1975 gerechnet) drei Jahrzehnten seit Ende des Zweiten Weltkrieges herangewachsen waren: auf Japan und Westeuropa. Das 1945 am Boden liegende, ehemals militaristische ostasiatische Kaiserreich hatte sich mit seiner kosten- und preisgünstigen, zunehmend auch innovativen High-Tech an die Eroberung der Weltmärkte gemacht. Mit der Europäischen Gemeinschaft hatten sich nach dem Verlust ihres Großmachtstatus Nationen zusammengeschlossen, die jede für sich schon über eine gewaltige Wirtschaftskraft verfügten, allen voran die prosperierende Bundesrepublik Deutschland, aber auch Frankreich und Italien und seit 1973 auch Großbritannien. Zudem war (und ist) die EG und ihr Nachfolger, die EU, in beständigem Wachstum begriffen.

    Anfang der 1980er Jahre kündigten sich mit zwei geografisch weit voneinander entfernten Ereignissen erste Auflösungserscheinungen des sowjetischen Imperiums an: Die militärisch sinnlose Besetzung Afghanistans (1979/80), mit der die Sowjetunion ihre größte historische Ausdehnung erreichte, offenbarte die tiefen Selbstzweifel eines Kolosses auf tönernen Füßen; aus purer Angst vor einem Übergreifen der islamischen Revolution des Ajatollah Khomeini in den vorwiegend von Moslems bewohnten "weichen Unterleib" des Reiches hatte man nun erstmals für nötig befunden, das unhaltbare imperiale Glacis durch "Vorwärtsverteidigung" schützen zu müssen.


    Mit den Streiks in der Danziger Lenin-Werft im Herbst 1980, angeführt von dem Arbeiter Lech Walesa, der damals noch nicht im Traum daran dachte, einmal Polens Präsident zu sein, sondern nur eine unabhängige Gewerkschaft im Sinn hatte, zeigte sich schlagartig die innere Aushöhlung eines Systems, das sich als die Herrschaft des Proletariats definierte; die Grundlagen des Sowjetblocks hatten damit ihre erste gefährliche Erschütterung erfahren.

    In den folgenden Jahren sollte sich zudem der äußere Druck auf die Sowjetunion verstärken. US-Präsident Reagan (1981-1989) kündigte bald nach seinem Amtsantritt an, die sowjetische Überrüstung im Bereich der Mittelstreckenraketen (SS 20), auf die der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gelenkt hatte, durch eine NATO-"Nachrüstung" (Pershing II) zu konterkarieren und "das Reich des Bösen" notfalls "zu Tode zu rüsten", bis hin zum Szenario einer Militarisierung des Weltraums.

    Dass derartige Zukunftsaussichten auf sowjetischer Seite die alleräußersten Kraftanstrengungen erfordern würden, war klar; ob die Energien ausreichen würden, um mitzuhalten, war zumindest fraglich. Die Sowjetunion hatte ihre bisherige Hochrüstung ohnehin nur unter Hinnahme eines kargen bis elenden Lebensstandards der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zustandegebracht. Die erste Antwort des Kreml bestand in kurzlebigen Herrschaften zweier Greise (Andropow und Tschernenko) und anhaltender Unbeweglichkeit. Dann betrat mit Michail Gorbatschow ein Mann die weltpolitische Bühne, der die Welt verändern sollte.