Geschichte: Das Erbe des Kolonialismus

    Aus WISSEN-digital.de


    An der 1991 in Cartagena abgeschlossenen VIII. Konferenz der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) ließ sich das allmähliche Ende des Südens als politischer Kraft plastisch beobachten: Die Gruppe der 77, einst gegründet als Kartell der Habenichtse des Südens, um dem Westen politische und wirtschaftliche Zugeständnisse abzutrotzen, hat ausgedient. Wachsende regionale Interessengegensätze sowie der sich ständig vergrößernde Abstand zwischen den Ärmsten der Armen und den aufstrebenden Schwellenländern haben das dünne Band durchtrennt, das die inzwischen 120 Mitglieder der Gruppe der 77 noch zusammenhielt.

    Dieser Tendenz zur Aufsplitterung des Südens entspricht gebündeltes Desinteresse im Norden: Wirtschaftlich haben die meisten der armen Staaten schon längst nichts mehr zu bieten - weder als Investitions- noch als Billiglohnländer. Und auch politisch sind sie nach dem Ende der Ost-West-Polarität weitgehend bedeutungslos geworden. Verhängnisvoll aber ist das Zusammenspiel beider Entwicklungen für die mittlerweile auf fast 50 Länder angewachsene Gruppe jener Staaten, die als absolut arm gelten. Sie werden weiter an den Rand gedrängt.

    Auch die Industrieländer müssten daran interessiert sein, diese Entwicklung zu stoppen, denn die Probleme gerade der Armutsländer werden näher rücken: Die Druckwellen der Armutswanderung - etwa die Daueremigration von Zentralamerika in die USA - sind längst zu spüren. Die Umweltkatastrophe im Armutsgürtel der Welt - wer arm ist, benutzt hauptsächlich Holz zum Kochen und Heizen - verschärft den Treibhauseffekt für alle.


    Eingesetzt hatte die Formierung der Dritten Welt 1955 auf der ersten Konferenz der "Blockfreien" in Bandung (Indonesien). Als ihre Hauptanliegen wurden die Entlassung aus der Kolonialherrschaft und gerechte Anteile an der Weltwirtschaft formuliert. Begonnen hatte die "Entkolonialisierung" mit Indien: 1947 verzichteten die Briten auf ihren wertvollsten Kolonialbesitz und taten damit einen Schritt staatsmännischer Weitsicht und Vernunft. Indiens kompakter mohammedanischer Siedlungsraum im Westen und Südosten spaltete sich als West- bzw. Ostpakistan ab; der Subkontinent wurde von Religionskämpfen und Wanderbewegungen größten Ausmaßes heimgesucht.

    In der Frühphase der Unabhängigkeit starb Mahatma Gandhi, die große Integrationsfigur des jahrzehntelangen gewaltlosen Befreiungskampfes, durch ein Attentat (1948). Erster und langjähriger indischer Ministerpräsident wurde sein Schüler Jawaharlal Nehru (1889-1964).

    Weit weniger geschickt als die Engländer in Indien und die Holländer mit der Freigabe Indonesiens (1949) operierten die Franzosen in der Ablösungsphase ihres Kolonialreiches. Sowohl in Indochina als auch in Algerien vollzog sich die Trennung unter blutigen, vielfach grausamen Kämpfen. In Algerien beendete der wieder an die Macht gerufene General de Gaulle den Kampf von Paris aus politisch, indem er den Algeriern Unabhängigkeit gewährte (1962). Hunderttausende Algerien-Franzosen siedelten ins Mutterland um. Zu den unfriedlichen Abschieden vom Kolonialzeitalter gehört auch die Suez-Affäre von 1956. Der ägyptische Präsident Nasser hatte den Suez-Kanal verstaatlicht, woraufhin England, Frankreich und Israel in Ägypten einfielen. Sie mussten sich unter amerikanisch-sowjetischem Druck (die Supermächte handelten in diesem Fall selten einmütig) zurückziehen.


    In Südostasien wurden die französischen Kolonialherren besiegt (Dien Bien Phu, 1954); sie zogen sich aus den Ländern Vietnam, Laos und Kambodscha zurück. Vietnam wurde als dritter Staat der Welt in einen kommunistischen und nichtkommunistischen Teil gespalten.

    Die kommunistische Infiltration Südvietnams beantworteten die Vereinigten Staaten mit einer massiven Wirtschafts- und Militärhilfe für das antikommunistische Regime in Saigon, die sich bald zu einer direkten kriegerischen Konfrontation mit Nordvietnam ausweitete (1965). Der "Vietnamkrieg" wurde in den 1960er Jahren zur grausamsten und folgenreichsten militärischen Auseinandersetzung mit kolonialem Hintergrund. 1973 zogen sich die USA zurück. Südvietnam wurde schon zwei Jahre später von den Kommunisten erobert und mit dem Norden wiedervereinigt.

    Die größte geschlossene Entkolonialisierung brachten die 1960er Jahre in Afrika. Die Gründe für die Verselbstständigung, für das Ende der Kolonialzeit - hier wie in anderen Teilen der Welt - lagen im Ost-West-Konflikt begründet, in der Machtkonkurrenz, bei der jede Seite Bündnispartner suchte. Auch wirkte die weltweit lockende kommunistische Befreiungsidee durchaus antikolonialistisch. Hinzu kam, dass die britisch-französischen Kolonien im Zweiten Weltkrieg mit Rohstoffen und Soldaten wesentlich zum Sieg beigetragen hatten. Die erwachenden Nationen verlangten nun ihren Lohn in Form ihrer Anerkennung als gleichrangige Partner.

    In Afrika veränderte sich die Staatenkarte binnen weniger Jahre vollständig. Die Besitzungen Frankreichs, Englands und Belgiens wurden im Wesentlichen bis 1963 in die Unabhängigkeit entlassen, Portugals Kolonien errangen ihre Freiheit erst 1975 nach langen Guerillakämpfen. Seither gibt es in Afrika keine "Fremdherrschaft" im Sinne alter Kolonialpolitik mehr. Die Herrschaftsverhältnisse der Kolonialzeit wirken jedoch in anderer Form nahezu ungebrochen nach. Zum einen bestehen den afrikanischen Völkern aufgezwungene Strukturen unverändert fort. Die meist "mit dem Lineal" gezogenen Grenzen der alten Kolonialreiche durchschneiden traditionelle Stammesgebiete und Wirtschaftsräume. Ständig neu entbrennende kriegerische Konflikte zwischen den früheren Kolonien sind ebenso die Folge wie blutige Stammesfehden zwischen willkürlich in künstliche Staatsgebilde zusammengefassten, oft verfeindeten Völkerschaften.

    Zum anderen brechen gerade in jüngster Zeit die kolonialen Machtverhältnisse als "innerer Kolonialismus" wieder hervor: Die noch zur Zeit der früheren Kolonialherren an die Macht gelangten Eliten - die herrschenden Clans, die kleinen Cliquen korrupter Beamter und Militärs, die dünne Schicht wohlständiger Technokraten - können nur durch Gewaltherrschaft den Aufruhr der am Rande oder unterhalb des Existenzminimums dahinvegetierenden Massen unterdrücken.

    Der ungeheure Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Luxus und Elend führt immer wieder zur Selbstzerfleischung der "befreiten" afrikanischen Völker in gnadenlosen Bürgerkriegen. Und zuletzt hat sich auch der "äußere Kolonialismus" in moderner Form erhalten: Die Befreiung von der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Industriestaaten der Ersten Welt ist nicht geglückt. Aus allein wirtschaftlichen Gesichtspunkten werden ehedem blühende Landschaften zu öden Monokulturen umgestaltet; der Anbau von Nahrungsmitteln für den Eigenbedarf wird den Einheimischen dadurch unmöglich gemacht. Der immense Schuldenberg der Dritte-Welt-Länder lässt ihnen keine andere Wahl, als ihre Rohstoffe zu den Bedingungen der Industriestaaten zu veräußern.

    Die Abhängigkeit von Löhnen und Weltmarktpreisen, die in den Machtzentren der alten Kolonialmächte diktiert werden, ist fast "sklavisch" zu nennen - nach wie vor sind die Völker Afrikas fremden Mächten ausgeliefert. Beispielhaft für die geringen Entwicklungschancen ehemaliger Kolonien ist der mittel- und südamerikanische Kontinent. Dabei sind die Republiken Lateinamerikas nicht "jung" im historischen Sinne, sondern schon seit hundertsiebzig Jahren von Spanien und Portugal befreit. Ihr Entwicklungsstand - eine dünne Schicht des Reichtums neben schreiender Armut, die mangelnde Infrastruktur, hohe Inflations- und Arbeitslosenzahlen - reiht sie aber zwangsläufig in die erst aufstrebenden, zivilisatorisch rückständigen Staatengruppen ein.


    Ein Kapitel für sich bildet Südafrika, weil hier zwar eine weiße Vorherrschaft besteht, nicht aber im herkömmlichen Schema einer Kolonialmacht; denn die weißen Südafrikaner, überwiegend holländisch-burischer Herkunft, siedeln dort seit Jahrhunderten und betrachten Südafrika ebenso als Heimat wie die große schwarze Mehrheit des Landes. Doch die weißen Südafrikaner haben die Zeichen der Zeit noch rechtzeitig erkannt. Bei den ersten freien, nicht rassistischen Parlamentswahlen ging der Afrikanische Nationalkongress (ANC) als Sieg hervor und sein Vorsitzender Nelson Mandela wurde am 9. Mai 1994 zum ersten schwarzen Präsidenten des Staates Südafrika gewählt. Er und seine Nachfolger erhielten das unanfechtbare Mandat, Südafrika in eine Demokratie gleichberechtigter Bürger zu verwandeln. Doch um die Apartheid zu überwinden, reichte es nicht, Gesetze über die Rassentrennung abzuschaffen. Südafrika war immer Dritte Welt für die schwarze Mehrheit und Erste Welt für die weiße Minderheit in einem. Diesen Nord-Süd-Konflikt in sich selbst muss Südafrika noch entschärfen.