Geschichte: Altamerikanische Kulturen

    Aus WISSEN-digital.de


    Zehntausende von Jahren, bevor Europäer Amerika entdeckten, noch bevor die jungmongoloiden Züge in Asien sich voll ausprägten, wanderten die Vorfahren jener Völkerstämme, die später irrtümlich Indianer genannt wurden, über die Beringstraße und durchdrangen von Norden nach Süden den amerikanischen Kontinent. Die Gesamtzahl der Indianer dürfte zur Zeit von Christoph Kolumbus etwa zwischen 40 und 45 Millionen gewesen sein. Der französische Ethnologe P. Rivet wies 123 verschiedene Sprachfamilien nach, die nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen verknüpft sind. Wie die Sprachen der "Neuen Welt", so zeigen auch die indianischen Kulturen zahlreiche Unterschiede im Niveau, unzählige Ausdrucksformen im sozialpolitischen Bereich, eine Vielfalt an Gesichtern sowie Formen und Techniken in Kunst und Architektur.


    Im Laufe der indianischen Geschichte kam es neben dem Gebiet der Zentral-Anden (Ecuador, Peru, Bolivien), wo die spanischen Eroberer 1532 auf das Imperium der Inka stießen, in Mittelamerika (Mexiko, Guatemala, Honduras und El Salvador) zur Ausbildung altamerikanischer Hochkulturen.

    Im Norden Mittelamerikas waren die Azteken dabei, ähnlich wie die Inka, aufbauend auf zahlreichen älteren Kulturen, die Macht zu übernehmen und die anderen Völkerschaften tributpflichtig zu machen. Im Süden war die klassische Zeit der Maya-Kultur, als die ersten Europäer an den Küsten der Halbinsel Yucatán landeten, seit Jahrhunderten vorüber, und die rivalisierenden Stadtstaaten der nachklassischen Zeit stritten sich um die Vorherrschaft. Diesen indianischen Hochkulturen ist ein langwieriger Entwicklungsprozess gemeinsam: die Ablösung der egalitären Kulturstufe des Wildbeutertums, bedingt durch ertragreiche Anbaupflanzen wie Mais, Bohnen oder Kartoffeln; eine streng differenzierte, arbeitsteilige Klassengesellschaft mit Priestern, Adligen, Königen und, wie im Fall der Inka, mit einem absoluten Herrscher, dem "Sohn des Sonnengottes", an der Spitze. Die Maya entwickelten eine Hieroglyphenschrift, die Azteken bedienten sich einer Bilderschrift, während das Reich der Inka nur über ein System von Knotenschnüren (Quipu) als Schriftersatz verfügte.

    Bei Rekonstruktion der Ursprünge wie des weiteren Verlaufs der Entwicklungsstufen - die sich unabhängig von denen der Alten Welt heranbildeten - ist die Wissenschaft fast ausschließlich auf archäologisches Fundmaterial angewiesen. Das Bild, das die Funde aus Mittelamerika und dem zentralen Andenraum reflektieren, ist in seinen Grundzügen ähnlich. Auf der Basis agrarischer Dorfgemeinschaften entstand in Mexiko an der südlichen Golfküste und im nördlichen Hochland von Peru eine Elite, der es gelang, mit Hilfe eines eindrucksvollen Kunststils ein "Götterbild" zu schaffen, das zugleich sowohl Furcht als auch Hoffnung zu erwecken verstand. In beiden Fällen, sowohl in der Kultur der Olmeken wie der von Chavín, stand am Anfang der religiösen göttlichen Verehrung der "Felide", die vermenschlichte Raubkatze, und es entstanden Zeremonialstätten wie San Lorenzo (etwa 1200-800 v.Chr.), La Venta (800-400 v.Chr.) in Mexiko und Chavín de Huántar (ca. 800-400 v.Chr.) in Peru. Es waren keine urbanen Zentren mit großer Bevölkerungszahl; jedoch ein ungeheures Potenzial von Arbeitskräften und die Erstellung von ausreichender Nahrung war durch verbesserte Anbaupflanzen und Bewässerungsmethoden in großen benachbarten Gebieten gesichert. Religion, Kunst und Fernhandel lagen in der Hand einer Elite, die die Umverteilung der Güter vornahm und mit der Verbreitung ihres religiösen Weltbildes Macht und Einfluss zu vergrößern versuchte.


    In Peru standen durch die geografischen Gegebenheiten - an der Küste zwischen fruchtbaren Flusstälern endlose Wüsten und im Gebirge Hochplateaus, getrennt durch die über 6 000 Meter hohen Bergketten der Zentralanden - stets schwer zu überwindende Barrieren der Ausbreitung einer weltlichen Macht im Weg. Dazu kamen die unvergleichlich stärkeren Wesensunterschiede zwischen den mehr lebensfroh veranlagten Menschen des Hochlandes und denen des Flachlandes, so dass sich immer wieder separatistische Strömungen zeigen, die sowohl in den gesellschaftlichen Strukturen als auch in einer Vielfalt von Kunststilen zum Ausdruck kommen. Erst wenige Generationen vor der Ankunft der Spanier gelang es einem kleinen Stamm der Quetchua-Indianer, die im Hochtal von Cuzco siedelten, mit Hilfe militärischer Macht die Vielzahl der Stämme zu unterjochen, ihre Sprache, das Quetchua, als die offizielle Amtssprache einzuführen und mit Hilfe eines gewaltigen Beamtenapparates das "Imperium der Inka" zu errichten und zu erhalten.

    Der Begriff "Mutterkultur" ist im Zusammenhang mit der von Chavín, die am Anfang der kulturellen Entfaltung im zentralen Andenraum steht, nicht so zutreffend wie etwa für die Olmeken in Mittelamerika. Das Wort "olméca" ist aztekischen Ursprungs und bedeutet in freier Übersetzung etwa "die Leute aus dem Gummiland". Damit wurden im vorspanischen Mexiko die Bewohner der südlichen Golfküste, der Heimat der Chico-Zapote-Bäume bezeichnet. Hier lag das Kernland der noch immer rätselhaften Olmeken mit ihren großen Zeremonialzentren wie San Lorenzo, La Venta und Tres Zapotes.

    Anders als die Träger der Chavín-Kultur in Peru hinterließen sie neben der ersten zentralen Götterfigur, dem vermenschlichten Jaguar, auch eine Art "Ahnengalerie". Unübersehbar sind die Monumentalköpfe, von denen ein Dutzend bisher bekannt ist und die nach dem Urteil des englischen Bildhauers Henry Moore "das großartigste Werk an Geist und Gestaltung" sind, das er "auf dieser Erde kenne". Die Steinplastik, zu denen auch Stelen, Flachreliefs und kleine Jadearbeiten zählen und deren gekonnte und materialgerechte Bearbeitung offensichtlich von Berufskünstlern ausgeführt wurde, ist das bedeutendste Kennzeichen dieser Kultur. Die Kolossalköpfe sind ohne Nachfolge geblieben, während die Stelen am Anfang einer langen Entwicklungsreihe stehen, die bis zu den Großskulpturen der Tolteken und Azteken führt. Neben den religiösen Ideen, die das Fundament für alle weiteren Entwicklungen innerhalb des mittelamerikanischen Kulturkreises bilden, gehören noch das rituelle Ballspiel, die Entwicklung einer Kalenderwissenschaft und eines Schriftsystems zu den wesentlichen Merkmalen der Olmeken. (Eine Stele in Tres Zapotes verzeichnet ein Datum, das nach unserem Kalender 31 v.Chr. entspricht.) Die Kultur der Olmeken blieb nach deren schweigendem Abgang bei den vielen Kulturen, die teils neben-, teils nacheinander die Bühne des alten Mexiko beherrschten, noch lange wirksam.

    Den größten Teil vom Leib dieser "Mutterkultur" schnitten sich die Maya ab. Lange vor den Indern "erfanden" sie die abstrakte Ziffer Null. Sie kannten den Stellenwert, entwickelten als einzige Kultur eine Hieroglyphenschrift mit über 4000 verschiedenen Schriftzeichen, die aus mehr als 400 Grundelementen bestand, perfektionierten die Kalenderwissenschaft wie kein anderes Volk bis zum "technischen Zeitalter" und errechneten bis zu Millionen von Jahren zurück liegende fiktive Daten.


    Auf Stelen, Treppen und Mauern von Bauwerken sind Weihedaten in Stein gemeißelt oder in Stuck geformt. Hieroglyphen sind in Jadeplatten geschnitten, auf Fresken oder Keramiken der klassischen Zeit gemalt. Nur ein Teil, vorwiegend die auf den Kalender bezogenen Schriftzeichen, sind bis heute entziffert. Der Rest war bis heute nicht zu enträtseln. So kennen wir zwar eine lückenlose Folge von Weihedaten an Bauwerken, auf Stelen, von Grabbeigaben beginnend vom Jahr 292 bis zum Jahr 909 n.Chr. Die Namen der Würdenträger, die sie umgeben, kennen wir jedoch nicht, ebenso wenig die Namen von den kultischen Stätten mit ihren bis zu 70 Meter hohen Tempelpyramiden, die zwischen dem 8. und 9. Jahrhundert ihre Bedeutung verloren und vom tropischen Dschungel in den Tiefländern des südlichen Mexiko und des nördlichen Guatemala zurückerobert wurden und erst im letzten und in diesem Jahrhundert ihre Wiederentdeckung meist dem Zufall verdanken. Hinsichtlich der Ursachen für das Verlassen der kultischen Zentren im Maya-Tiefland sind viele, auch überzeugende Gründe angeführt worden: Erschöpfung des Bodens, Überforderung der Menschen durch die Priester-Elite und schließlich Revolten gegen die Machthaber, die sich mehr um die Gestirne als um den Menschen kümmerten und dadurch ihr eigenes Schicksal herausforderten.

    Ein Blick auf die mexikanischen Kulturen zeigt, dass sich der Zusammenbruch der Theokratien und damit das Ende der "klassischen Zeit" zwischen dem 8. und 9. Jahrhundert, nicht nur auf die Kultur der Maya beschränkt. Teotihuacán, im Hochtal von Mexiko, das größer war als das antike Athen oder das alte Rom, ging in Flammen auf; der heilige Berg der Zapoteken, der Monte Albán in Oaxaca, verlor seine religiöse Funktion und wurde von den Mixteken, den nördlichen Nachbarn, als Begräbnisplatz ihrer Würdenträger benutzt. Auch das prächtige El Tajín an der mittleren Golfküste verwaiste. Archäologische Funde zeigen überall ein ähnliches Bild, eine Verlagerung der Machtverhältnisse von Priesterfürsten auf eine mehr weltlich orientierte, militante Führungsschicht.


    Ausgelöst wurde dieses vermutliche Ende der Theokratien durch das Eindringen wilder, kriegerischer Stämme von Norden her. Tula, die neue Hauptstadt der Tolteken, wurde zur Metropole im zentralen Hochland von Mexiko. An den fast fünf Meter hohen Steinskulpturen der Krieger, die das Dach des Quetzalcóatl-Tempels trugen, lässt sich der neue Zeitgeist fast so gut ablesen, als wenn schriftliche Quellen vorhanden gewesen wären. Dieses Antlitz der ins Leere starrenden Kriegerfiguren - die ganz im Gegensatz zu den abstrakten wie zu den menschlichen Formen der Vegetationsgötter von Teotihuacán stehen - ist unverkennbar und findet sich neben dem Symbol ihres zum Gott erhobenen Kriegerfürsten Quetzalcóatl, der "Gefiederten Schlange", auch in den 1200 Kilometer entfernten "Städten" der nachklassischen Maya-Kultur auf der Halbinsel Yucatán, wohin sich der Schwerpunkt in der nachklassischen Periode (etwa 900-1540) verlagerte. Neben den unverkennbaren und übereinstimmenden Merkmalen in der Architektur zwischen Tula und Chichén Itzá geben uns die mündlichen Überlieferungen der Chilam Balam, der "Jaguar-Priester", Auskunft, die zur Zeit der spanischen Eroberung noch lebendig waren und in lateinischen Lettern aufgezeichnet wurden. Sie berichten von Hurrikans, von Seuchen, von entsetzlichen Bruderkriegen und davon, dass man fremde Söldner ins Land rief. Es waren die Tolteken, sie kamen und blieben. So trägt die letzte Phase der wohl blühendsten Hochkultur des alten Amerika zwei Gesichter, das der Maya und das einer toltekischen Gruppe, die aus dem Hochtal von Mexiko kam.

    Diese Zeit der Unruhe, der "Völkerwanderung", begann vermutlich mit den Tolteken und fand erst mit der spanischen Eroberung ihr Ende. Denn auch Tula wurde von "Barbaren", die aus dem Norden kamen, im 12. Jahrhundert zerstört. Einer dieser kriegerischen Stämme nannte sich Méxica oder Azteka. Sie brachten ihren Stammesgott Huitzilopochtli mit sich. So wird es in einer Bilderschrift gezeigt, der auch zu entnehmen ist, dass sie sich auf Geheiß dort niederlassen sollten. Auf einer sumpfigen Insel im Texcoco-See erfüllte sich die Weissagung. Dort gründeten sie ihre Hauptstadt Tenochtitlán. Das war 1340 oder 1375.


    In kurzer Zeit gelang es den Azteken, teils durch Bündnisse, teils durch Kriege zur führenden Macht aufzusteigen. Tenochtitlan wurde zur Metropole unter zahlreichen Stadtstaaten. Im Gegensatz zu den Inka in Peru, mit denen sie nicht nur die kurze Geschichte gemeinsam haben, führten sie keine Eroberungskriege, um ein "Imperium" zu errichten, sondern waren darauf bedacht, andere Völkerschaften zu unterwerfen, um von ihnen hohe Tributabgaben zu fordern oder auch um ihrem Gott Gefangene opfern zu können.

    Dem Aufstieg der Azteken und ihrer Metropole schienen keine Grenzen gesetzt, bis 1519 Hernándo Cortés mit 400 Spaniern dort erschien. Zwei Jahre später erhoben sich die Azteken gegen die europäischen Eindringlinge. Der Zeitpunkt war zu spät. Cortés und seine Leute, unterstützt von hunderttausenden der Azteken überdrüssig gewordener indianischer Hilfstruppen, vernichteten das aztekische Tenochtitlán. Auf seinen Trümmern errichteten die Spanier die heutige Hauptstadt von Mexiko.