Geschichte: Reformation

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    In Deutschland bestimmte die Verbindung religiöser, ständischer und wirtschaftlicher Kämpfe die Verfassungsentwicklung. Der aufstrebende Territorialstaat wurde durch die Verbindung mit den reformatorischen oder den gegenreformatorischen Kräften auf Kosten des Reichs und der Kaisermacht gestärkt. Ziel der Entwicklung wurde der unbeschränkte Absolutismus des Landesherrn. Aber zunächst kam es zu einem Kompromiss zwischen Fürstenmacht und Ständerecht im dualistischen Ständestaat. Das übrige Europa durchstand unterdessen den Kampf zwischen den Ständen und dem Königtum. Während in England die Stände siegten und in der Glorreichen Revolution von 1688 das Königtum auf die Verfassungsstruktur einer zunächst aristokratisch-großbürgerlich beherrschten Demokratie verpflichteten, setzte sich auf dem Festland unter Führung der spanischen Habsburger und des französischen Königtums der Absolutismus durch.


    Der religiöse Akzent der politischen Entwicklung in Deutschland gewann Durchschlagskraft, als Martin Luther (1483-1546), Augustinermönch und Seelsorger der Wittenberger Stadtkirche, eine brennende Zeitfrage aufgriff: den Ablasshandel. Dieser wurde vor allem durch den Dominikanermönch Johann Tetzel in Mitteldeutschland propagiert. Die Einnahmen aus diesem Ablass sollten zur einen Hälfte dem Erzbischof von Magdeburg und Mainz, zur anderen der Kurie zufließen, die für den Ausbau der Peterskirche größere Geldmittel brauchte.

    Mit seinen 95 Thesen gegen den Ablasshandel, einer theologischen Streitschrift, die er (nach einer heute umstrittenen Überlieferung) am 31. Oktober 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, jedenfalls aber im Herbst des genannten Jahres versandte, forderte Luther in lateinischer Sprache zu einer gelehrten Disputation über den Ablass auf. Er wollte vor allem beweisen, dass mit Geldopfern allein keine Buße gewonnen werden könne. Den starken Widerhall, den die durch Übersetzung und Druck rasch verbreiteten Thesen fanden, hatte Luther weder gewollt noch vorausgesehen. Er zeigte jedoch, welche religiöse Hochspannung und Unruhe im Land herrschten. Eine Lawine kam ins Rollen, die Luther ebenso mitriss wie seine Gegenspieler. Vergleichsversuche und Drohungen der Kurie - sie begannen mit der Disputation Luthers mit dem an der Universität zu Ingolstadt lehrenden Theologen Johannes Eck (1520) und gipfelten in der Androhung des Kirchenbannes - führten nur zur Verhärtung der Fronten. 1520 verbrannte Luther die päpstliche Bulle und ein Exemplar des Corpus Iuris Canonici. Das bedeutete den Bruch mit der Kirche.


    Die Lutherschriften dieses Jahres - An den christlichen Adel deutscher Nation, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche und Von der Freiheit eines Christenmenschen - prägten das lutherische Bekenntnis mit seinen Kernforderungen: Laienpriestertum, Beschränkung der Sakramente auf Taufe und Abendmahl, Rückgriff auf die Heilige Schrift als entscheidende Instanz in allen Glaubensfragen. In Luthers Glaubenswelt liegt die Erlösung des Menschen allein im Glauben an Christus; er belässt zwar den Menschen in seiner Sündhaftigkeit, rettet ihn aber vor der Verdammung und nimmt seiner Existenz so die Ur- und Weltangst.

    Auf dem Reichstag zu Worms im Frühjahr 1521 zeigte sich die Unvereinbarkeit der Anschauungen. Luther forderte, man müsse ihn durch klare Vernunft oder aus der Heiligen Schrift widerlegen. Der Versuch eines Ausgleichs endete mit der Ächtung Luthers, die freilich durch Schutzmaßnahmen Friedrichs des Weisen von Sachsen unwirksam blieb. Luthers Wittenberger Predigt gegen die Extremisten unter den Anhängern seiner Lehre - die Schwarmgeister und Bilderstürmer -, aber auch seine Bibelübersetzung, die 1534 abgeschlossen wurde, legten den Grund für das Überleben seines Bekenntnisses. Er sicherte zudem seine Lehre durch das politische Bündnis mit dem aufstrebenden Landesfürstentum, indem er innerhalb der ihm anhängenden Territorialstaaten die monarchisch geführte Landeskirche schuf. Dieser Schritt hatte für die deutsche Geschichte nicht nur religiöse, sondern auch weittragende politische Folgen. Er half mit, die Entmachtung der Reichsgewalt weiter voranzutreiben.

    Dennoch kann man noch nicht von einem aktiven politischen Protestantismus reden. Ein solcher entstand erst mit der Lehre des Schweizers Ulrich Zwingli (1484-1531). Bei ihm flossen religiöse und politische Aktion zusammen. Er erstrebte in kriegerischer Auseinandersetzung mit den katholischen Kantonen der Schweiz die Errichtung eines protestantischen Gesamtstaats. Als die katholischen Kantone von Habsburg unterstützt wurden, versuchte Zwingli vergeblich, eine außenpolitische Allianz seiner Kantone Basel, Bern und Zürich mit dem europäischen Protestantismus zu Stande zu bringen. 1531 fiel er in der Schlacht bei Kappel. Auch seine religiöse Lehre war in ihrem moralisch-sittlichen Rigorismus radikaler als die Luthers und mehr auf eine Reform staatlichen Handelns (unter Befolgung der Heiligen Schrift) als auf die Erneuerung des Glaubens gerichtet; sein Marburger Religionsgespräch mit dem deutschen Reformator im Jahre 1529 musste daher am Gegensatz der Abendmahllehre scheitern. Während nach Luthers Überzeugung Leib und Blut Christi im Abendmahl tatsächlich gegenwärtig sind ("Realpräsenz"), bedeutete es für Zwingli lediglich eine symbolische Vergegenwärtigung des letzten Abendmahls, eine Gedächtnisfeier der Gemeinde. Insofern war Zwingli ein typischer Repräsentant des humanistischen Rationalismus, ein früher Vorläufer der "Entmythologisierung" des Christentums.


    Weltgeschichtlichen Rang gewann der von Zwingli begründete politische Protestantismus dann durch das Wirken Johann Calvins (1509-1564). Er stellte den Prädestinationsgedanken in den Mittelpunkt seiner Lehre. Danach sind alle Menschen der Erbsünde verfallen und unfähig, von sich aus zu ihrem Ursprung in Gott zurückzukehren. In unbegreiflicher Barmherzigkeit hat Gott aber einige Menschen begnadet und als seine Werkzeuge auserwählt. Dass ein Mensch zu den vorherbestimmten Auserwählten des Gottesreichs gehört, beweist der wahre Erfolg - nicht nur ein äußeres Glück, sondern die sichtbare Mehrung der Werke Gottes als Frucht harter Arbeit und strenger Selbstzucht. Jeder hat daran zu arbeiten, damit Gottes Ruhm sichtbar wird.

    Auch bei Calvin spielt wie in Luthers Vorstellungswelt die Kraft des Glaubens eine zentrale Rolle. In Calvins Theologie aber bewirkt der Glaube noch mehr: Gott zieht in seiner Gnade den Menschen, ihn heiligend, zu sich heran. Calvins politische und religiöse Ideen, die in seinem Genfer Wirkungsbereich durch praktische Erfahrung im Kampf gegen katholische Landesherrn - die Herzöge von Savoyen - geprägt wurden, verschmolzen zum Ideal eines ständisch-demokratischen protestantischen Staats, eines reformierten Kirchenstaats. Er versuchte ihn auf dem Weg einer strengen theokratischen Staatsführung zu erreichen. Mit Hilfe eines Konsistoriums als oberster Kirchenbehörde von Genf spielte Calvin die Rolle eines politischen und geistlichen Diktators zugleich. Mit dem Übergreifen auf Teile Deutschlands, Frankreich, die Niederlande und England gewann seine Gedankenwelt eine bedeutsame Rolle in der europäischen Politik. Darüber hinaus wurde der Calvinismus später zur Grundlage der meisten protestantischen Religionsformen in den Vereinigten Staaten von Amerika.