Politikverdrossenheit: Gründe und Lösungswege

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    Politikverdruss kann man ganz nüchtern betrachten, wie in unserem dazugehörigen Lexikonartikel. Allerdings ist damit weder das Problem als solches genauer skizziert, noch wird aufgezeigt, ob und welche Lösungswege es überhaupt gibt. Beides ist jedoch elementar wichtig.

    Über die Hintergründe der Verdrossenheit

    Strenggenommen handelt es sich bei Politikverdruss nur um einen Dachbegriff. In der Praxis lassen sich zwei sich distinktiv unterscheidende Varianten erkennen:

    • Eine allgemein negative Einstellung über die Politik bzw. das dahinterstehende System als solches

    oder

    • eine auf die aktuelle Regierung oder spezifische Teile ihres Handelns bezogene Ablehnung; wesentlich seltener auf einzelne Politiker.

    Letzteres ist ein Problem für sich, und dürfte insgesamt eine deutlich größere Zahl von Personen umfassen. Allerdings ist eine so spezifische Politikverdrossenheit nicht das eigentliche Problem. Denn sie lässt sich mitunter bereits bei der nächsten Wahl beseitigen. Dann, wenn andere Parteien, Parlamente oder eben politische Personen das Ruder übernehmen.

    Insbesondere auf Demokratien westlicher Prägung bezogen ist der allgemeine Politikverdruss das größere Problem. Allerdings sei erwähnt, dass er für ein beliebiges staatliches System kritisch ist – Politikverdruss findet sich sowohl in Demokratien als auch jeder anderen denkbaren Regierungsform, bei der es ein irgendwie geartetes Herrschaftsverhältnis gibt.

    Jedoch ist es nötig, dies alles für Deutschland differenzierter zu betrachten. Insbesondere auf bundespolitischer Ebene ist beispielsweise die Wahlbeteiligung, erst recht 2021, längst nicht so dramatisch, wie es den Anschein machen kann. 76,6 Prozent sind ein guter Wert. Selbst in schlechtesten Zeiten (2009) fiel die Beteiligung nie unter 70 Prozent.

    Deutlich dramatischer ist dagegen der Mitgliederschwund der Parteien. Seit 1990 haben die Bundestagsparteien etwa die Hälfte ihrer Mitglieder eingebüßt. Umgekehrt sind die Zahlen der angetretenen Parteien dramatisch gestiegen: Waren es bei der allerersten Bundestagswahl 1949 14, so standen 2021 nicht weniger als 54 zur Auswahl. Vordergründig mag dies gegen Politikverdrossenheit sprechen, tatsächlich ist es jedoch eine direkte Ausprägung und Folge davon.

    Die wichtigsten Gründe für politischen Verdruss

    Es lässt sich feststellen, dass beide Formen des oben skizzierten Politikverdrusses aus derselben Quelle schöpfen. Hier lassen sich einige distinktive Merkmale herausfiltern, die in Umfragen immer wieder bestätigt werden. Im Folgenden wird von „die Politik“ gesprochen, womit die Gesamtheit des politischen Systems gemeint ist.

    Der Glaube, dass die Politik nicht stringent handelt

    Dies lässt sich vor allem dann beobachten, wenn es Situationen gibt, in denen viele Menschen die Ansicht bekommen, dass die politischen Maßnahmen „irrational“, „fehlgeleitet“, „chaotisch“, „sich widersprechend“ oder anderweitig nicht zielführend oder sehr sprunghaft seien. Oft wird in diesem Zusammenhang von Schildbürgerlichkeit in Anlehnung an die Eulenspiegel-Geschichten gesprochen.

    Ein häufig herangezogener Fall hierfür ist die langjährige Situation rund um das (digitale) Glücksspiel. Hierbei war es bis zur Neuregelung des Glücksspielstaatsvertrages im Sommer 2021 u. A. teilweise nur möglich, als Schleswig-Holsteiner bei in diesem Bundesland lizensierten Anbietern zu spielen. Alle anderen Deutschen agierten nur nach EU-Recht legal. Ganz aktuell werden ähnliche Vorwürfe im Rahmen der Corona-Maßnahmen vorgebracht. Jedoch muss diese Situation als generelle Ausnahme betrachtet werden, da sie für eine ungewöhnlich breite und tiefe Spaltung von Befürwortern und Ablehnern sorgt.

    Das Gefühl, belogen worden zu sein

    Die allermeisten Menschen erwarten, dass den Worten aus der Politik dementsprechende Taten folgen. Ist dem (mehrfach) nicht so, erodiert nach und nach das Vertrauen. Aus medialer Sicht wird dieses Problem in aller Regel nur mit „gebrochenen“ Wahlversprechen in Verbindung gebracht. Tatsächlich jedoch lässt sich kein besonderer zeitlicher Bezug zu Wahlen oder vergleichbaren Prozessen feststellen.

    Heißt, dieser Faktor kann jederzeit greifen, wenn eine Gruppe von Bürgern das Gefühl hat, dass aus politischer Richtung Signale gesendet wurden, die nicht deckungsgleich mit dem späteren Handeln sind. Erneut muss an dieser Stelle die Pandemie als Beispiel genannt werden. Hier gab es unter anderem Diskussionen, nachdem sich Olaf Scholz vor der Bundestagswahl gegen eine Impfpflicht positionierte, jedoch einige Wochen später unter dem Eindruck der vierten Welle umschwenkte. Sicherlich eine notwendige Maßnahme, jedoch eine, die ihm von verschiedenen Personen angekreidet wurde. Dieses Beispiel ist auch deshalb bedeutsam, weil es zeigt, dass Politikverdruss überaus häufig mit subjektiven, hochemotionalen Auslösern einhergeht – die nicht immer rational begründbar sind.

    Das Gefühl, politisch nicht vertreten zu sein

    Insbesondere in einer Demokratie wird es als Grundvoraussetzung angesehen, dass den Wählern über die Parteien und deren Flügel ein möglichst großes politisches Spektrum geboten wird. Dies ist deshalb nötig, weil sich hier zwischen jedem Wähler teils dramatische Unterschiede manifestieren. Naturgemäß kann jedoch selbst eine sehr pluralistische politische Landschaft nicht alle Strömungen präzise ansprechen – und darf es bei extremistischen Positionen zum Schutz der Demokratie als solche auch gar nicht.

    Je mehr Menschen sich dabei nicht ausreichend vertreten empfinden, desto größer wird die Anzahl von Politikverdrossenen. Einige Experten sehen dies beispielsweise als einen Teilgrund für das Erstarken rechter Parteien an. Und mit absoluter Sicherheit ist es der wichtigste Grund für die besagten 54 zur Bundestagswahl angetretenen Parteien und den Mitgliederschwund der Etablierten. Das allgemeine Problem bei der empfundenen nichtvorhandenen politischen Vertretung ist jedoch speziell in Deutschland auch durch die ausnehmend lange Regierungszeit Angela Merkels zu erklären. Ähnliche Muster ließen sich bereits am Ende der ebenso 16-jährigen Regierungszeit Helmut Kohls sowie am Ende der Ära Adenauer beobachten.

    Der Glaube, dass die eigene Stimme nichts ausrichten könne

    Eine Demokratie lebt davon, dass jeder Wähler der Überzeugung sein muss, dass seine Stimme(n) darin resultieren, dass die Regierung in seinem Sinne handelt. Auch hier muss in die Gesamtbetrachtung einfließen, dass nicht jeder Wähler gleichermaßen vertreten sein kann. Ein echtes Problem entsteht dann, wenn zu viele Menschen zu dieser Ansicht gelangen. Besonders häufig lässt sich dies in Ländern und Bundesstaaten beobachten, in denen einzelne Politiker oder Parteien für ungewöhnlich lange Zeit die Regierung stellen. In diesem Fall bekommen Anhänger anderer Parteien oder politischen Positionen das Gefühl, dass ihre Stimme nichts an den festzementiert scheinenden Verhältnissen ändern könne. Das bundesrepublikanisch wohl beste Beispiel hierfür ist Bayern, wo die CSU seit 1957 durchgängig den Ministerpräsidenten stellt, 50 Jahre mit absoluter Mehrheit regierte und erst dreimal auf Koalitionspartner angewiesen war (1957-1962, 2008-2013, 2018-).

    Die Ansicht, dass Politiker keine Menschen des Volkes mehr seien

    Ganz ähnlich, wie Wähler sich und ihre Ansichten vertreten sehen möchten, so verbinden sie eine positive Politik häufig damit, sich in ihren politischen Vertretern wiederzufinden. Einmal mehr handelt es sich hierbei um ein Grundsatzproblem, denn selbst der aktuell enorm große Bundestag kann natürlich nicht jeden Bundesbürger oder sogar nur jeden Wähler gleichermaßen so detailliert repräsentieren.

    Neben einigen wenigen Personen, die jedoch derartiges tatsächlich erwarten, herrscht bei der größeren Zahl von Politikverdrossenen eher das vage Gefühl vor, dass zwischen Politikern und Bürgern eine generell zu breite Kluft bestünde. Dies resultiert unter anderem aus den erlernten Berufen der Bundestagsabgeordneten, die weite Teile der Berufslandschaft der Wähler unberührt lassen. Es erstreckt sich zudem auf deren Diäten, die Altersabsicherung, zahlreiche andere Positionen. In der Summe sorgen sie dafür, dass viele Wähler Politiker als deutlich bessergestellte Menschen empfinden, die dementsprechend kein echtes Verständnis mehr für die Sorgen und Nöte des „kleinen Mannes“ hätten.

    Hier vermuten Experten unter anderem einen starken Zusammenhang mit einer seit Jahrzehnten erodierenden Mittelschicht. Dazu muss jedoch erneut unterstrichen werden, dass Politikverdrossenheit ein durch und durch emotionales, subjektiv und, wie erwähnt, oft irrationales Empfinden ist. Das Problem an sich wird dadurch jedoch nicht gemildert. Denn all das sind sehr starke Motivatoren, bei manchen Menschen sogar die stärksten überhaupt.

    Mögliche Lösungswege

    Wie lässt sich Politikverdrossenheit bekämpfen? Die einfache Antwort wäre, alles, was im vorherigen Kapitel aufgezeigt wurde, exakt andersherum zu machen. Allerdings wäre damit das Problem nicht aus der Welt. Natürlich, es muss der Politik gelingen, einen in jeglicher Hinsicht besseren Zugang zu allen Teilen der Wählerschaft zu finden. Und das besser zu machen, was von relevanten Teilen der Betroffenen kritisiert wird, ist sicherlich sowohl ein guter Anfang als auch eine insgesamt stützende Lösungsmaßnahme.

    Viele Fachleute empfehlen jedoch andere und/oder weitere Herangehensweisen.

    • Eine direktere Demokratie durch deutschlandweite Volksabstimmungen,
    • Räte und Parlamente, deren Mitglieder sich (teilweise) durch per Los bestimmte Normalbürger zusammensetzen,
    • Absenkung des Wahlalters auf 16,
    • Einführung diverser Quoten für Parlaments- und Parteimitglieder und
    • stärker auf Politik ausgerichteter Schulunterricht

    finden sich immer wieder sehr deutlich in den „Forderungskatalogen“ verschiedener Quellen, darunter auch aufstrebende Nachwuchspolitiker. Als stärkste Waffe allerdings wird nach wie vor der Dialog gesehen: Raus aus den Parlamenten, rein in die Menschenmengen und dort einfach zuhören, sprechen und den direkten Kontakt suchen. Das klassische Gespräch auf Augenhöhe als Gegenentwurf zum einseitigen, von einer Tribüne aus vorgetragenen Monolog.

    Die einzige Bedingung dafür? Politische Terminpläne, die für solche Gespräche genügend Raum lassen.

    Kalenderblatt - 19. März

    1921 Russland und Polen unterzeichnen einen Friedensvertrag.
    1953 Der Bundestag billigt die deutsch-alliierten Verträge, die später Deutschlandvertrag genannt werden. In ihnen wird das Ende des Besatzungsstatus und die Wiedererlangung der Souveränität geregelt.
    1956 Die Bundesrepublik erlässt das Soldatengesetz, in dem die Forderungen an eine demokratische Armee dargelegt werden.