Geschichte: Islamistischer Fundamentalismus - Das neue Feindbild

    Aus WISSEN-digital.de


    Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Bankrotterklärung der kommunistischen Ideologie ist in der "Ersten Welt" bisweilen so etwas wie Erleichterung darüber zu verspüren, dass man nicht ganz auf ein gewohntes, grob gerastertes Feindbild verzichten muss. Als "aggressive, revolutionäre Bewegung, so militant und gewalttätig wie die bolschewistischen und faschistischen Ideologien der Vergangenheit" charakterisierte etwa der amerikanische Professor Perlmutter den islamischen Fundamentalismus in der "Washington Post".


    Der "heilige Krieg" der islamischen gegen die christliche Welt muss als Erklärungsmuster für die vielfältigen, komplizierten Konflikte im Nahen Osten und in Nordafrika herhalten - ein Geschichtsbild von gefährlicher Einfachheit. Die Weltherrschaft streben die Moslems nicht an. In ihrer Mehrheit wollen sie lediglich gemäß ihren Traditionen und Wertvorstellungen einen eigenen Weg zu einem menschenwürdigen Leben finden. Die Ursache für die religiöse Renaissance des Islam ist im Zusammenstoß morgenländischer Lebensformen mit der hochtechnisierten, pluralistischen Industriegesellschaft des Westens zu suchen, der als tiefer Kulturschock empfunden wird.

    Dabei gilt die Abwehr nicht den wissenschaftlich-technischen Grundlagen der modernen Zivilisation, sondern deren Folgen und Begleiterscheinungen, die als ihr eigentliches Wesen verstanden werden: religiöse Indifferenz, "Materialismus", sexuelle Freizügigkeit, Drogenmissbrauch. Die wachsende Verelendung immer größerer Bevölkerungskreise, vor allem in den uferlos wachsenden Metropolen wie Kairo, Istanbul oder Algier, treibt den Verkündern religiösen Heils scharenweise Anhänger zu. Doch das Ziel aller fundamentalistischen Gruppen ist die Umgestaltung der eigenen Gesellschaften im Sinne des Islams und nicht die Bekehrung oder gar Unterwerfung des christlich-materialistischen Abendlandes.


    Vielmehr hat die Unterwerfung des islamischen Morgenlandes durch die europäischen Kolonialmächte im 19. und frühen 20. Jahrhundert Anteil am Aufleben des Nationalismus und religiösen Fundamentalismus im Nahen Osten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nachdem die islamischen Staaten zwischen Atlas und Indus ihre Unabhängigkeit erhalten oder - wie Algerien - erkämpft hatten, wurde die gesamte Region als Nebenschauplatz des Kalten Krieges zwischen Ost und West missbraucht; die Sowjetunion nahm Einfluss auf das Ägypten Gamal Abd el-Nassers, auf Syrien und den Irak, die Amerikaner setzten auf die arabischen Monarchien und den Iran, den der Schah Reza Pahlewi in kürzester Zeit zur modernen Industrienation hochzukatapultieren gedachte.

    Das einzige Band, das die untereinander heillos zerstrittenen und im Zeichen des Ost-West-Konflikts noch zusätzlich gegeneinander ausgespielten Staaten im Nahen Osten einte, war die klare Frontstellung gegen Israel. Seit der Gründung Israels (1948) als der Heimstätte der dem Holocaust entkommenen europäischen Juden und der in ihren Heimatländern unterdrückten orientalischen Juden sehen sich die Araber mit einer Mini-Supermacht konfrontiert, die sie ein um das andere Mal gedemütigt hat, und die Israelis sehen sich umringt von 120 Millionen Feinden, die kraft ihrer Demographie und Ressourcen die wahre Übermacht in Händen halten.


    Der Zankapfel Palästina, beansprucht von beiden Seiten, wurde zum Ausgangspunkt dreier Kriege: 1948/49, 1967 und 1973. Israel behauptete sich kraft militärischer Überlegenheit gegen die miteinander verbündeten Araberstaaten. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre schlossen Ägypten und Israel auf Initiative des ägyptischen Staatspräsidenten Anwar as-Sadat in langwierigen Verhandlungen ein separates Friedensabkommen, während die übrigen Anrainerstaaten Israels noch immer in einem latenten Kriegszustand mit dem jüdischen Staat stehen. Als hartnäckigstes Problem erweist sich die ungeklärte Zukunft der heimatlosen Palästinenser, d.h. der 1948/49 geflüchteten und vertriebenen Araber und ihrer Nachkommen in den Flüchtlingslagern rund um Israel, und die Frage der Selbstbestimmung in den von Israel seit 1967 besetzten Gebieten mit vorwiegend arabischer Bevölkerung.

    Sowohl der in den Nahen Osten exportierte Ost-West-Konflikt als auch das Spezifikum des israelisch-arabischen Konflikts verstellten lange Zeit den Blick auf die eigentlichen Probleme und Gefahren der Region, auf den sozialen Sprengstoff in den Großstädten, auf das komplizierte Geflecht der historisch gewachsenen "Erbfeindschaften", etwa der zwischen Arabern und Persern, Sunniten und Schiiten, auf die revolutionären Energien, die spirituelle Sehnsüchte wachrufen können. Seinen ersten nachhaltigen Ausdruck fand die religiöse Erneuerungsbewegung im islamischen Raum mit der triumphalen Rückkehr des Ajatollah Khomeini in den Iran am 1. Februar 1979, der den Sturz des weltlich fundierten und westlich orientierten Schah-Regimes zur Folge hatte. Der schiitische Geistliche, der sich als Wegbereiter des künftigen Imams, einer Art "islamischen Messias", verstand, führte die "Islamische Revolution" zum Sieg und setzte sich als höchste geistliche Autorität und inoffizielles Staatsoberhaupt an die Spitze der "Islamischen Republik Iran". Unter Khomeini wurden das Schulsystem, die Sozialordnung, das Wirtschaftsleben unter die Kuratel der Religion gestellt, die auch zum bestimmenden Faktor der Außenpolitik geriet, was sich unter anderem in der Ausrufung des "Heiligen Krieges" gegen die USA und der über ein Jahr andauernden Geiselnahme des gesamten US-amerikanischen Botschaftspersonals in Teheran (November 1979 bis Januar 1981) ausdrückte.

    Zu jener Zeit hatte sich der irakische Diktator Saddam Hussein schon als eine Führerfigur der arabischen Staatenwelt profiliert und glaubte leichtes militärisches Spiel mit dem außenpolitisch isolierten und im Innern geschwächten Iran zu haben, als er im September 1980 auf breiter Front in die Erdölprovinz Khusistan einmarschieren ließ. Es entwickelte sich ein aufreibender, Menschen und Material verschlingender Krieg, der 1988 durch einen von der UNO initiierten Waffenstillstand abgebrochen wurde - ohne Sieger und ohne Verlierer, sieht man einmal von den internationalen Waffenhändlern ab, die gute Geschäfte gemacht hatten. Acht Jahre Krieg, schätzungsweise 800 000 Gefallene und Abermilliarden Kriegsschulden ließen beiden Seiten keine andere Wahl, als endlich vorsichtige Bereichtschaft zum Frieden zu signalisieren.


    Waren in diesem 1. Golfkrieg die arabischen Staaten noch en bloc solidarisch mit dem Irak gewesen, so stellte der irakische Überfall auf Kuwait vom 2. August 1990 die arabische Welt vor ihre bislang härteste Zerreißprobe. Der irakische Diktator ließ ein Ultimatum der UNO, das annektierte Scheichtum bis zum 15. Januar 1991 zu räumen, tatenlos verstreichen. Am 17. Januar 1991 begannen die militärischen Operationen der multinationalen Streitkräfte unter Führung der USA zur Befreiung Kuwaits. All seiner wahnwitzigen Rhetorik zum Trotz erlebte Saddam Hussein Ende Februar nach Beginn der alliierten Bodenoffensive sein militärisches Debakel.

    Gleichwohl war es ihm gelungen, seine Elitetruppe, die "revolutionären Garden", noch rechtzeitig aus dem Feuer zu nehmen, dies vor allem auf Kosten der Kurden, die sich von dem Sieg der Alliierten ihre Freiheit erhofft hatten und gegen die sich nun die geballte Aggression des geschlagenen Kriegstreibers richtete.

    2003 schlug dann endgültig die Stunde des Tyrannen von Bagdad. Die USA, die ein Ende der UN-Waffeninspektionen im Irak nicht abwarten wollten, machten gemeinsam mit Großbritannien im 3. Golfkrieg dem Regime Saddam Husseins ein Ende.

    Zu den Verlierern der Golfkriege zählten auch die Palästinenser, die nach dem Abflauen ihrer "Intifada", ihres 1987 begonnenen Volksaufstands in den besetzten Gebieten, auf Saddam Hussein gesetzt hatten, der Israel mit seinen Scud-Raketen beschoss, um - vergeblich - die Araber aus der anti-irakischen Front zu locken. Immerhin sahen sich die USA in der Lage, sowohl Israel als auch die arabischen Frontstaaten erstmals in der Geschichte an den Verhandlungstisch zu zwingen, und zwar im Spätherbst 1991 in Madrid. Noch wurden nur Formeln ausgetauscht, die arabische "Land gegen Frieden" gegen die israelische "Frieden gegen Frieden". Doch allein Amerika ist als Weltordnungsmacht, Beschützer und Schiedsrichter übrig geblieben - wer sich durchsetzen will, muss Washington auf seine Seite bringen oder zumindest verhindern, dass die USA sich im anderen Lager einrichten.


    Hier brachte die Konferenz von Kairo am 4. Mai 1994 den entscheidenden Durchbruch. Nach 45 Jahren Feindschaft unterzeichneten in der ägyptischen Metropole Israels Ministerpräsident Rabin und der Vorsitzende der palästinensischen Befreiungsfront PLO Jasir Arafat das Abkommen über die Autonomie der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten, Jericho und Gaza-Streifen, womit die Keimzelle eines Palästinenser-Staates geschaffen wurde.

    Konturen vermochte dieser allerdings bisher nicht zu gewinnen; die Hardliner auf beiden Seiten verhinderten, dass es zu weiteren tragenden Abkommen kam. Nach dem Ausbruch einer erneuten "Intifada" (Al-Aksa-Intifada) im September 2000 drehte sich die Spirale von Aktion und Reaktion, von palästinensischen Anschlägen und israelischen Vergeltungsmaßnahmen nur immer weiter. Mit dem Verfall der sowjetischen Supermacht und dem Erlöschen des Ost-West-Konflikts geht die Verlagerung des Schwerpunkts der islamischen Welt nach Osten einher.

    Ihr Gewicht wird beträchtlich verstärkt durch die über 50 Millionen Moslems in den ehemals sowjetischen Republiken in Zentralasien und am Kaspischen Meer. Das Banner des Propheten, das die Araber im 9. Jahrhundert bis zur Seidenstraße trugen, wollen jetzt die alten Vormächte dieser Weltregion in ihre Richtung wenden: Die Türkei trachtet, die ihr verwandten Nationen für eine säkulare, westorientierte Staatengemeinschaft der Turk-Völker zu gewinnen; der Iran ist bestrebt, sie vom Westen abzukehren und in seinen Gottesstaat einzubringen. Während insgesamt aber das Gewicht der islamischen Welt zunimmt, ist bei der übrigen Dritten Welt ein herber Bedeutungsverlust zu verzeichnen.