Existenzphilosophie

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    Existenzphilosophie (Existenzialismus) ist eine Sammelbezeichnung für philosophische Ansätze im Europa des 19. und 20. Jh.s, die die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung der individuellen Existenz des Menschen in den Mittelpunkt stellen. Damit wendet sie sich gegen den Rationalismus und betont stattdessen das existenzielle, d.h. ganzheitliche, Körper, Seele und Geist miteinbeziehende Denken.

    Ursprünglich stellte die Existenzphilosophie eine Reaktion auf das optimistische Ordnungsdenken des deutschen Idealismus dar. Mit den Erfahrungen der Wirtschaftskrise und der Weltkriege erhielten die zentralen Themen des Existenzialismus – die Absurdität des Daseins, Angst und Einsamkeit des Einzelnen – ein ganz neues Gewicht.

    Die Welt als Wille: Arthur Schopenhauer

    Arthur Schopenhauer (1788-1860), Zeitgenosse des letzten überragenden Systemdenkers Hegel, setzte als erster bedeutender Existenzialist dem deutschen Idealismus eine pessimistische Philosophie der irrationalen Lebenskräfte entgegen. In seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" (1819; 1847 ergänzt) tritt der Wille an die Stelle der Weltvernunft. Dieser Wille ist aber nicht der autonome gute Wille der Ethik Kants oder die aktive Tatsetzung des Geistes wie bei Hegel und Fichte. Schopenhauer sieht den Willen als seiner Natur nach unvernünftig, ziel- und zwecklos an; es ist der reine Lebenswille, eine eingeborene Vitalkraft, die allem Leben eigen ist. Da er immer unbefriedigt ist und nur sich selbst zur Geltung bringen will, bringt er nur Leid über die Welt. Er bestimmt als Urkraft alles Leben, macht es aber deshalb notwendig zum steten Leiden.

    Nach Schopenhauer gibt es nur zwei Wege, sich dem durch den Willen erzeugten Leid zu entziehen. Der eine ist ein zeitlich begrenzter, die Flucht in das "interesselose", d.h. begehrlose, unegoistische Anschauen und Denken der Kunst und der Wissenschaft. Der andere hat einen dauernden Charakter und kann nur, ähnlich wie in der indischen Philosophie, über die Auslöschung des Willens überhaupt (und damit des Ichs) gegangen werden: Aufhebung der Individuation, Eingang ins Nichts, ins Nirwana (Sanskrit, das ausgelöschte Sein).

    Der auf den Kopf gestellte Existenzphilosoph: Karl Marx

    Bei Karl Marx, der die Philosophie Hegels "auf den Kopf stellte", vertauschen sich die Rollen des Subjekts und des Objekts in der Philosophie. Nicht mehr der autonome Geist bestimmt das gesetzte Objekt Welt, sondern umgekehrt die Welt den Geist. Das spricht Marx in dem für ihn charakteristischen Satz aus: "Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein."

    Während hier die Philosophie zum ideologischen Überbau des ökonomischen Kampfs um das Dasein wird, sind zwei philosophische Einzelgänger des vorigen Jahrhunderts der Forderung des subjektiven Philosophierens auf irrationalen Wegen gefolgt: Kierkegaard und Nietzsche.

    Existenz als Seinserlebnis: Sören Kierkegaard

    Sören Kierkegaard (1813-1855), dänischer Philosoph von starker religiöser Innerlichkeit, hat den Begriff der Existenz als innerstes Seinserlebnis geprägt und damit den Mittelpunkt der modernen Existenzphilosophie geschaffen. Kierkegaard wendet sich gegen das abstrakte Denken, bei dem sich seiner Meinung nach der Mensch nicht im Innersten miterlebe; er fordert deshalb den an der eigenen Seinserfahrung (Existenz) interessierten subjektiven Denker. Subjektiv heißt hier: auf das Subjekt des Denkers, nicht auf ein äußeres Objekt bezogen. Das Subjekt des Denkenden soll aus der Scheinexistenz in die echte Existenz ureigenen Seinserlebens gehoben werden. Denken und Sein sollen zusammenfallen. Der objektive Denker, sagt Kierkegaard, käme ihm vor wie ein Mann, der ein Schloss baut und in der Hütte nebenan wohnt. Ein systematisches Weltbild, wie es die objektive Philosophie aufzubauen versucht, scheitert am Widerstand der Wirklichkeit und an der irrationalen Natur des menschlichen Lebens. Daher können die Formen existenziellen Denkens niemals systematisch sein; sie bestehen vielmehr in der unendlichen Reflexion, d.h. einem steten Ringen um die Innewerdung der eigenen Existenz. (Wichtige Werke: "Der Begriff Angst", 1844; "Entweder - Oder", 1843.)

    Der Wille zur Macht: Friedrich Nietzsche

    Friedrich Nietzsche (1844-1900) ist wie Kierkegaard ein existenzieller Denker, aber im Gegensatz zu ihm nicht im religiösen, sondern im vitalen, auf das Leben gerichteten Sinn. Sein Philosophieren, dem er in dichterischer Form Ausdruck gab, ist unsystematisch. Nietzsche knüpfte an Schopenhauers irrationale Willensmetaphysik an, sieht den Willen aber lebensbejahend, als Wille zur Macht. Sein Wunschbild projiziert er in seinem bekanntesten Werk "Also sprach Zarathustra" (1883/85) als Gestalt des Übermenschen, in dem Gut und Böse überwunden sind durch ein nicht mehr zwiespältiges Leben.

    Nietzsche sah diese gesuchte „Ungebrochenheit“ des Lebens in der Epoche des Griechentums vorgeprägt, die für ihn bis zum Auftreten des "moralischen" Sokrates reicht. Die Zwiespältigkeit unseres Daseins kommt nach seiner Meinung aus der Sklavenmoral des Christentums, das "die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missratenen genommen hat" ("Umwertung aller Werte", 1882). Dagegen setzt er die ungebrochene "moralinfreie", gesund-vitale Herrenmoral.

    Nietzsches Gedanken sind schon wegen ihrer aphoristischen Form vielfach interpretierbar. So konnte sich z.B. auch die nationalsozialistische Rassenlehre mit ihrem "völkischen Gedanken" und ihrer Herrenmenschen-Arroganz auf ihn berufen. Karl Jaspers hat dagegen gezeigt, dass man Nietzsches Philosophie im Sinn des existenziellen Denkens kritisch verstehen kann ("Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens", 1950). Er sagt: "Philosophieren mit Nietzsche bedeutet ein ständiges Sich-gegen-ihn-behaupten."

    Die Nachfolger Kierkegaards: Karl Jaspers und Martin Heidegger

    Die Existenzphilosophie der Gegenwart ist vor allem geknüpft an die Namen Karl Jaspers (1883-1969) und Martin Heidegger (1889-1976). Beide nehmen den Grundansatz der Philosophie Kierkegaards wieder auf: Existenz lässt sich nicht gedanklich vom Leben selbst loslösen. Wir können Sie nicht gedanklich erfahren, sondern indem wir sie durchleben. In diesem Sinne ist die Existenzphilosophie anti-rationalistisch: "Sie hält den Verstand für ein untaugliches Werkzeug zur Erforschung der Wahrheit und misst dem Erkenntnisvorgang nur dann einen Wert bei, wenn er als eine natürliche Verhaltungsweise der Gesamtpersönlichkeit, nicht aber als eine Funktion der Geisteskräfte allein aufgefasst werden kann." (H. Schmidt, "Philosophisches Wörterbuch").

    Existenz ist, nach Jaspers, "Eigentlichseinwollen", also mehr als bloßes Dasein, das "Ich" gegenüber dem "Man". Das Eigentliche unserer Existenz erfahren wir in den Grenzsituationen unseres Daseins. Diesen für die Existenzphilosophie besonders wichtigen Begriff erklärt Jaspers: "Wir sind immer in Situationen. Ich kann an ihrer Veränderung arbeiten. Aber es gibt Grenzsituationen, die immer bleiben, was sie sind: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Die Grenzsituationen sind neben dem Staunen und dem Zweifel der Ursprung der Philosophie" ("Einführung in die Philosophie", 1950). Den Grenzsituationen entsprechen bei Heidegger der Begriff der Geworfenheit (das unentrinnbare Überantwortetsein des Daseins an sein eigenes "In-der-Welt-Sein") und andere Grundbefindlichkeiten (Existenzialien, Seinskategorien) unseres Daseins, wie Angst und Sorge (vgl. Kierkegaard).

    Der Grundgedanke des Existenzialismus: Existenz im Notstand

    Der pessimistische Grundzug der Existenzphilosophie, die vom Notstand des Daseins ausgeht (Tod, Angst, Sorge), ist charakteristisch für das Lebensgefühl unserer Zeit. Soziologische Umschichtungen, zwei Weltkriege, die Konfrontation gegensätzlicher Gesellschaftsordnungen, die Entgrenzung auf vielen Gebieten der Wissenschaft und Technik haben das Gefühl eines gesicherten Daseins gründlich zerstört: Dasein ist Ungesichertheit, Belastung und ständige Gefährdung.

    Die moderne Existenzphilosophie entstand nach dem Ersten Weltkrieg. Ihren Namen erhielt sie von Fritz Heinemann. Jaspers wandte ihn zum ersten Mal 1931 in dem berühmten Band 1000 der Sammlung Göschen "Die geistige Situation der Zeit" systematisch an, nachdem Heideggers grundlegendes Buch "Sein und Zeit" bereits 1927 erschienen war.


    Später griffen die existenzialistischen Ansätze auf Frankreich über. Ihr bekanntester Vertreter wurde hier der Heidegger-Schüler Jean-Paul Sartre (1905-80; Hauptwerk: "Das Sein und das Nichts", 1943, dt. 1952). Sartre hat seine Existenzphilosophie als einen neuen Humanismus erklärt ("L'existentialisme est un humanisme", 1946, dt. 1947). Der Furchtbarkeit des Seins, dem Ekel vor dem Absurden kann der Mensch seine Fähigkeit entgegensetzen, sich selbst zu "machen" und sich aus den Dingen nichts zu machen. In dieser Fähigkeit, das Nichts zu denken, liegt die Möglichkeit, die Bedrohung zu überwinden; sie bestätigt gleichsam die Freiheit des Menschen.

    Die religiöse Existenzphilosophie, vertreten von Gabriel Marcel (1889-1973) sowie den evangelischen Theologen Rudolf Bultmann (1884-1976) und Karl Barth (1886-1968) schließt sich dagegen mehr den Gedankengängen von Jaspers an.

    Die große Aufgabe der Existenzphilosophie: Vernunft und Existenz verbinden

    Der Sinn der Existenzphilosophie, die in der zeitgenössischen Dichtung eine deutliche Parallele hat (der späte Rilke, Kafka), wie sie auch ihrerseits auf die Dichtung stark zurückwirkte, ist die Existenzerhellung, die nach Jaspers ein Verstehen und Tun zugleich ist. Verstehen der Existenz "ist nicht wie das Teilnehmen an einem Anderen, sondern in eins das Verstehen und das Sein des Verstandenen". Jaspers nennt Vernunft und Existenz "die großen Pole unseres Seins". Ihr Verhältnis zueinander drückt er in dem Satz aus: "Existenz wird nur durch Vernunft hell; Vernunft hat nur durch Existenz Gehalt." (Jaspers, "Vernunft und Existenz", 1935).

    Aufgabe und Begrenzung der Existenzphilosophie hat Otto Friedrich Bollnow kritisch zu formulieren versucht: "Die Existenzphilosophie ist, historisch gesehen, der Anfang einer Philosophie, die mit letzter Unbedingtheit den Menschen mit seinen wirklichen Aufgaben und Schwierigkeiten in den Mittelpunkt des Philosophierens stellt. Die Existenzphilosophie ist, systematisch gesehen, ein bleibendes Glied in einer solchen Philosophie, das im spannungshaften Bezug zum Ganzen die dauernde Unruhe in Gang hält. Aber die Existenzphilosophie kann niemals das Ganze der Philosophie werden. Es gibt keine reine Existenzphilosophie. Wo sie als Ganzes dauernd festgehalten werden soll, entartet sie zu einer Haltung trotziger Versteifung, die weltlos in sich selbst kreist, unfähig, die Realität außer dem Menschen in ihrem eigenen Wesen zu begreifen und seine Aufgabe in ihr zu erfüllen." (Vgl. auch O.F. Bollnow, "Existenzphilosophie", 41955.)