Anarchismus

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    (von griechisch: an und arche, "Herrschaftslosigkeit")

    1. die politische Theorie einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ohne jede Form von Regierung und Herrschaftselementen.

    2. die politische Bewegung, die dieses Programm durchzusetzen sucht.

    Der Anarchismus ist die radikalste Ausprägung des Liberalismus. Er geht von der optimistischen Voraussetzung aus, dass der Mensch von Natur aus gut sei und folgert daraus, dass der in jeder Hinsicht freie Zusammenschluss sittlicher Individuen zur Harmonie führen müsse. Der Anarchismus erstrebt die herrschaftsfreie Gesellschaft, nicht die Auflösung jeder gesellschaftlichen Bindung und Ordnung und fordert die freiwillige Unterordnung unter gemeinsam fest gesetzte Grundsätze. Anarchie bedeutet somit nicht Gesetzeslosigkeit (Anomie), denn es bestehen vereinbarte Grundsätze. Der konsequent individualistische Anarchismus erlangte nur literarisch-theoretische Bedeutung (Stirner: "Die Gesellschaft ist eine Vereinigung von Egoisten"); anders die sozialistischen und kommunistischen Formen des Anarchismus, als dessen führende Theoretiker und Organisatoren 3380 Bakunin und Fürst Kropotkin hervortraten. Der Anarchismus steht in scharfem Gegensatz zum Marxismus (schwarze gegen rote Fahne, anarchistische Internationale gegen sozialistische). Der individualistische Anarchismus will die staatlichen Zwangseinrichtungen in einem evolutionären Prozess durch Aufklärung und Emanzipation überflüssig machen (Godwin, Stirner, Proudhon). Beim kollektivistischen Anarchismus soll das Privateigentum an Verkehrsgütern frei bleiben, die Vergesellschaftung der Erzeugungsmittel dagegen durchgeführt werden (Bakunin); der kommunistische Anarchismus erstrebt Gütergemeinschaft innerhalb kleiner selbstständiger Gruppen (Kropotkin). Ein Teil der Anarchisten wollte durch eine Propaganda der Güte und Vernunft zum Ziel kommen (darunter der belgische Geograf J. E. Reclus, Freund Kropotkins), die aktiveren revolutionären Elemente durch eine "Propaganda der Tat" (Attentate auf führende Persönlichkeiten gegen Ende des 19. Jahrhunderts, darunter auf Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sisi). In den USA wurde der Anarchismus 1886 verboten. Stärker in Erscheinung trat er in Russland und in den romanischen Ländern, vor allem in Spanien, wo er als Anarcho-Syndikalismus (siehe Syndikalismus) noch im Bürgerkrieg 1936-1939 eine Rolle spielte. In Deutschland konnte der Anarchismus nicht Fuß fassen. Einen aus dem christlichen Glauben abgeleiteten Anarchismus vertrat der russische Dichter Tolstoi. Es gab Anarchisten-Kongresse 1877 in Brüssel und 1907 in Den Haag. Elemente des Anarchismus sind auch in der Studentenbewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu erkennen.