Geschichtsphilosophie

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    Der Begriff umfasst die Sinndeutung und genaue Erfassung der Geschichte und ihrer Gesetzmäßigkeiten. D.h. es handelt sich um Versuche der Anwendung philosophischer Reflexionen auf die Geschichte in zweifacher Hinsicht, sowohl auf die Geschichtsschreibung bzw. -wissenschaft (analytische oder kritische Geschichtsphilosophie) als auch auf die Geschichte an sich (spekulative oder materielle Geschichtsphilosophie).

    analytische oder kritische Geschichtsphilosophie

    Erkenntnistheorie der Geschichte als a) des Geschehens und b) der Erforschung, der Erkenntnis und mitteilenden Darstellung der geschichtlichen Ereignisse.

    Die - vornehmlich von der Fachphilosophie bearbeitete - analytische Geschichtsphilosophie befasst sich als Wissenschaftstheorie mit der Begriffsbildung und der Abgrenzung der historischen Begriffsbildung gegen die naturwissenschaftliche Begriffsbildung ("Natur" contra "Geist", "Natur" contra "Geschichte", generalisierende Naturwissenschaft contra individualisierende Geschichtswissenschaft).

    spekulative oder materielle Geschichtsphilosophie

    Die spekulative Geschichtsphilosophie fragt nach dem Sinn der Geschichte, forscht nach Gesetzmäßigkeiten, sucht nach epochenübergreifenden Erklärungen: Regiert der Zufall in der Geschichte, oder gibt es historische Gesetze? Gibt es einen Sinn der Geschichte, ein Ziel, auf das sie sich hinbewegt?

    Es wurden zwei Hauptrichtungen sichtbar:

    a) die idealphilosophische (Schiller, Kant, Hegel, Wilhelm von Humboldt)

    b) die sozial-naturwissenschaftliche Richtung, begründet von Condorcet, der die entscheidende Rolle der Massen in der Geschichte betonte und den Fortschritt in der angestrebten politisch-sozialen Gleichheit sah.

    Geschichte

    "Geschichtsphilosophie" erhält ihre begriffliche Prägung im 18. Jahrhundert durch den französischen Aufklärer Voltaire, der erstmals von einer "philosophie de l'histoire" spricht. Die Ursprünge philosophischer Betrachtungen der Geschichte liegen freilich weiter zurück.

    Erste Versuche einer übergreifenden Erklärung der geschichtlichen Ereignisse finden sich in der jüdisch-christlichen Tradition. Im Judentum wird die Geschichte als Offenbarung der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk angesehen. Das Alte Testament versucht, einzelne historische Gegebenheiten, wie z.B. den Auszug der Israeliten aus Ägypten, als den Ausdruck göttlichen Willens und Vorsehung zu interpretieren. Auch in der christlichen Religion werden historische Ereignisse in die dem göttlichen Plan folgende Geschichte eingeordnet. Die Weiterentwicklung dieser Betrachtungsweise der Geschichte findet sich in Augustinus' Geschichtstheologie, dargestellt in seinem Hauptwerk "De civitate Dei" (Über den Gottesstaat), in dem er die Geschichte als einen Kampf zweier Reiche gegeneinander interpretiert: das Reich Gottes (civitas dei) gegen das Reich der Gottesfeinde (civitas diaboli oder civitas terrena). Augustinus ist sich des Sieges des Gottesreiches gewiss, gibt aber keine Kriterien für eine Interpretation oder eine zeitliche Einteilung geschichtlicher Gegebenheiten an. Erst im Mittelalter verstehen die römisch-deutschen Kaiser ihr Reich als ein "sacrum imperium", als Gottesreich auf Erden. Seit Papst Gregor VII. beansprucht auch die Kirche die Repräsentanz der "civitate dei".

    Eine wesentliche Grundlage für den Übergang von einer solchen theologischen Geschichtsdeutung hin zu einer neuzeitlichen Geschichtsphilosophie stellt der NominalismusWilhelm von Ockhams dar. Dieser tritt für eine Trennung des Wissens vom Glauben ein und versteht Geschichte als einen Ursache-Wirkungsprozess. Dementsprechend ist vom Standpunkt der Reformatoren aus (besonders den Vertretern des Kalvinismus nach) der Mensch schließlich in der Lage, seine eigene Geschichte und ihren Sinn zu konstruieren. Vico entwickelt aus diesem Gedanken eine weltliche Geschichtsphilosophie, die der menschlichen Gesellschaft ein zyklisches Entwicklungsmodell zugrunde legt und deren Fortschritt im Durchlaufen verschiedener Stufen von der Barbarei zur Zivilisation mit anschließendem Rückfall in die (Neo-)Barbarei annimmt.

    Die Aufklärung des 18. Jh.s formuliert als neues Paradigma der Geschichtsphilosophie die Säkularisierung der durch den Heilsplan der göttlichen Vorsehung geprägten Geschichte. Die Geschichte wird vermenschlicht. So versucht Herder in seinen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784-1791) aufzuzeigen, dass sich die menschliche Geschichte gleich der Natur nach festen Gesetzen entwickelt und zum Ziel der Geschichte, zur Humanität, fortschreitet. Kant, ebenso wie Schlözer, kritisiert diese "Naturalisierung" der menschlichen Geschichte durch Herder und interpretiert Geschichte als eigenständiges System. So führen - nach Kant - die "ungeselligen" Anlagen des Menschen und sein gesellschaftlicher "Antagonismus", also sozio-historische Bedingungen, zum Fortschreiten der menschlichen Vernunft hin zur bürgerlichen Verfassung und zum "ewigen Frieden".

    Den Höhepunkt idealistischer Geschichtsphilosophie stellt die Philosophie Hegels dar, die die Geschichte als den in dialektischen Schritten verlaufenden Prozess der Selbstbewusstwerdung des Weltgeistes mit dem Ziel größtmöglicher Freiheit des Menschen versteht. Marx und Engels verbinden das dialektische Entwicklungsgesetz Hegels mit einer materiellen Komponente und erheben den Klassenkampf um die Produktionsmittel zur Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung und die klassenlose kommunistische Gesellschaft zum Ziel der Geschichte. Dahingegen vertritt - ebenfalls im 19. Jh. - der französische Philosoph Comte die These des Dreistadiengesetzes, wonach der geschichtliche Verlauf in drei Stadien linear vor sich geht. Als sich im Laufe des 19. Jh.s die Geschichte als empirische Wissenschaft etablieren kann, verliert die materielle, spekulative Geschichtsphilosophie an Ansehen und Einfluss.

    Erst seit dem Ende des 19. Jh.s, als historische Forschung unter dem Stichwort des "Historismus" in die Kritik gerät, setzt erneut eine philosophische Reflexion der Geschichte ein, um im Sinne einer kritischen Geschichtsphilosophie Methoden- und Grundlagenfragen zu klären. So versuchen beispielsweise die Neukantianer Rickert und Windelband, die Geschichtswissenschaft methodisch von den Naturwissenschaften abzugrenzen, indem sie die Erstere als idiografische (individualisierende), die Letztere als nomothetische (verallgemeinernde) Wissenschaft kennzeichnen.

    Die wohl einflussreichste Kritik an einer materiellen Geschichtsphilosophie kommt von Seiten Karl Poppers. In seinen Werken "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" (The Open Society and its Enemies, 1945) und "Das Elend des Historizismus" (The Poverty of Historicism, 1957) kritisiert er unter anderem die Theorien Hegels und Marx' als Historizismen, die dem von ihm aufgestellten Falsifikationsprinzip nicht standhielten, da sie prinzipiell empirisch nicht falsifizierbare apriorische Annahmen seien. Die gegenwärtige Geschichtsphilosophie erörtert einerseits im Rahmen einer wissenschaftstheoretischen Diskussion der Geschichtswissenschaft deren Methoden und Aufgaben, andererseits wurden historische Elemente in andere Bereiche der Philosophie übernommen, so z.B. in die Tugendethik MacIntyres.