Geschichte: Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung in der Neuzeit

    Aus WISSEN-digital.de

    Das 19. Jahrhundert steigerte die Bedeutung des wirtschaftlichen Geschehens im Gesamtgefüge des historischen Ablaufs. Revolutionäre wirtschaftliche Veränderungen griffen so tief in die soziale Ordnung ein wie nie zuvor. Der Besitz großer Vermögen und die darauf beruhende wirtschaftliche Potenz bedeuteten mehr denn je zugleich den Besitz politischer Macht. Die Rolle der Wirtschaft hat sich im Gang der politischen Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte oft als schicksalhaft erwiesen.

    Die Epoche wurde bestimmt durch die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Diese Ordnung ermöglichte eine weltweite Arbeitsteilung im Rahmen eines allen zugänglichen Weltmarktes anstelle konkurrierender nationalstaatlicher und kolonialer Märkte der merkantilistischen Zeit. Zugleich wurde das 19. Jahrhundert, das die Verflechtung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Geschichte deutlich macht, zum Jahrhundert der Befreiung aller Kräfte, die im Zusammenwirken das wirtschaftliche Geschehen bestimmen: Boden, Arbeit, Kapital, Handel, Gewerbe und Produktion. Die allmähliche Loslösung dieser Grundlagen der Wirtschaft aus den Bindungen und Rechtsetzungen der Grundherrschaft, der Zünfte, Monopole und Privilegien ist die entscheidende Leistung des 19. Jahrhunderts. Dieser Prozess, der die Zeit von 1789 bis 1850 erfüllt, begann mit der Bauernbefreiung und der Beseitigung der Grundherrschaft.

    Frankreich ging hier 1793 durch die Erlasse des Konvents voran. Preußen folgte nach 1806 mit den Stein-Hardenbergschen Reformen und dann erneut 1849, Süddeutschland schloss sich an, Russland kam erst 1861 zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Die angelsächsischen Mächte vollendeten aus ihrer demokratischen Tradition heraus diese Entwicklung. Die Vereinigten Staaten erreichten das Ziel revolutionär im Zuge ihrer Loslösung vom Mutterland, England evolutionär um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Südeuropa folgte nur zögernd nach der Jahrhundertmitte und ließ wie Preußen und Russland dem privaten Großgrundbesitz beträchtlichen Raum und Einfluss. Der Ruf nach Bodenreform verstummte deshalb in diesen Gebieten auch nach der Befreiung nicht .

    Gänzlich ausgeschlossen blieben von dieser Entwicklung zunächst die rein kolonialen Räume, wobei man beachten muss, dass Leibeigenschaft oder Hörigkeit im Sinne der europäischen Sozialgeschichte dort nicht vorkamen; an ihrer Stelle stand Sklaverei mit vergleichbarer wirtschaftlicher Funktion.

    Der Ferne Osten aber mit seiner Fortdauer feudaler Zustände bis in das 19. Jahrhundert hinein hinkte in dieser Entwicklung dem Abendland sichtbar nach und erlebte die entscheidende Wandlung ebenso wie die alten Kolonialländer erst im Gefolge der Erschütterungen der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. In China zum Beispiel hatte die bürgerliche Revolution zwar theoretisch alle Fesseln gesprengt, praktisch aber erzwang erst die kommunistische Revolution einen Umsturz des wirtschaftlichen und sozialen Gefüges im Land. Auch die Gewerbefreiheit wurde erst allmählich im 19. Jahrhundert zum Rechtsgrundsatz. Wiederum war das revolutionäre Frankreich führend (1789); England und die USA folgten, Deutschland schloss sich 1869 an.

    Außerhalb der genannten Länder kam sie bis ins 20. Jahrhundert nie völlig zum Zug; in Deutschland erlebte sie Rückschläge (Handwerksordnung von 1953/57) und ist heute noch in ihrem Ausmaß umstritten. Eine völlige Befreiung des Handels vollzog sich nur innerhalb der Nationalwirtschaften. Der internationale Handel aber erlebte im Zeichen des Wirtschaftsliberalismus unter Führung Englands im 19. Jahrhundert die weiteste Lockerung seiner Fesseln, bis die im letzten Drittel einsetzende Schutzzollpolitik aufstrebender Industriestaaten ihm wieder neue Hindernisse in den Weg legte. Aber erst der Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems nach dem Ersten Weltkrieg, die Reparationspolitik und der nationalwirtschaftliche Autarkismus der Zwischenkriegsperiode versetzten ihm einen entscheidenden Schlag und warfen ihn in seiner Entfaltung schwer zurück.

    Insgesamt gesehen muss man jedoch feststellen, dass dieser Dreischritt der Entwicklung zur völligen oder teilweisen Befreiung von Arbeit, Boden, Gewerbe und Handel erst die Voraussetzungen schuf für die volle Entfaltung der Industrie.

    Maßgeblichen Anteil am wirtschaftlichen Fortschritt hatte die enge und fruchtbare Zusammenarbeit von naturwissenschaftlicher Forschung und praktischer Umsetzung, die Verwissenschaftlichung der vorher meist auf empirischer Grundlage entwickelten industriellen Technik. Dies zeigt das Beispiel der Erfindung der Kraftmaschinen von der Dampfmaschine bis zum Benzin- und Elektromotor ebenso wie die Entwicklung der Produktionsmaschinen vom mechanischen Webstuhl bis zur überwältigenden Vielfalt ihrer Erscheinungen im 20. Jahrhundert. Aber auch die Einführung der aus eigener Kraft bewegten Fahrzeuge von der Lokomotive bis zum Flugzeug, die das Transportwesen revolutionierten, gehört in diesen Zusammenhang, ebenso die Entwicklung der Methoden der Nachrichtenverbreitung, beginnend mit Telegraf und Telefon.

    Schließlich ermöglichte die moderne Naturwissenschaft auch die intensive Bodennutzung (verbesserte Anbaumethoden, landwirtschaftliche Maschinen, Kunstdünger) und schuf damit die Voraussetzung für die Ernährung der explosionsartig ansteigenden Bevölkerung in den Industriestaaten.

    England blieb bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die wirtschaftliche Führungsmacht; es nutzte die Gewinne aus seiner mechanisierten Textilindustrie, um die Eisen verarbeitende Industrie und den Bergbau zu entwickeln und den Verkehr zu revolutionieren. Als Lehrmeister des Kontinents und der Kolonialräume stieg England zum führenden Kapitalgeber auf, seine Währung wurde zur Weltwährung.


    Frankreich und Deutschland holten in den fünfziger Jahren stark auf, die USA standen lange Zeit an vierter Stelle, bis der Erste Weltkrieg sie schlagartig an die Spitze brachte. Der Ferne Osten und die kolonialen Räume folgten, geführt von Japan, erst im 20. Jahrhundert. Zum Teil haben diese Länder die größte Wegstrecke des Industrialisierungsprozesses heute noch vor sich, so Indien, China, der größte Teil Afrikas, die arabischen Staaten, aber auch die südamerikanischen Republiken.

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer verstärkten Nutzung von Elektrizität und Öl als Energiequelle; mit der Elektro- und chemischen Industrie entwickelten sich neue Wirtschaftszweige, in denen Deutschland bald einen hohen Marktanteil errang. Der Besitz und die Verfügungsgewalt über Rohstoffe wurden immer mehr zu einem entscheidenden Faktor im weltpolitischen Spiel, die Jagd nach diesen Rohstoffen zu einer der Wurzeln des Imperialismus.

    Die Aufwärtsentwicklung aller Wirtschaftszweige beschleunigte auch die Neuorganisation des Geldwesens, das bis 1800 kaum über den Stand des Spätmittelalters und der Renaissance hinaus gediehen war. Es bildete sich das System der Zentralnotenbank unter Staatsaufsicht heraus. England schuf die auf Goldbasis beruhende Währung, die den Kapitalaustausch über die nationalwirtschaftlichen Grenzen hinaus überhaupt erst möglich machte. Ein immer mehr sich verfeinerndes System der Kreditgewährung rundete das Bild im Laufe des 19. Jahrhunderts ab.

    Die explosive und revolutionäre Kraft der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung verhinderte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein die Entstehung eines wirtschaftlichen Gleichgewichtszustandes. Sie war begleitet von wiederholten Krisenwellen wie dem europäischen Konjunktureinbruch von 1847/49 auf dem Hintergrund von Missernten und Eisenbahnspekulationen und den internationalen Depressionen von 1857, 1873 und 1929.

    Neben innerwirtschaftlich bedingten Krisenfaktoren hatte der Zusammenbruch von 1929 eine seiner Wurzeln im Ersten Weltkrieg, der dem von England entwickelten und gelenkten weltwirtschaftlichen Organismus den Todesstoß versetzte, ohne dass Englands Nachfolger in der führenden Rolle, die USA, in der Lage gewesen wären, seine Aufgaben sinngemäß zu übernehmen und so die Kontinuität der wirtschaftlichen Struktur zu sichern. Die revolutionäre Entwicklung in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft hatte auch grundlegende soziale Veränderungen zur Folge. Auch auf diesem Gebiet sind die beiden letzten Jahrhunderte in der Schnelligkeit und Intensität des gesellschaftlichen Prozesses mit keinem der vorausgehenden zu vergleichen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass in den letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts im sozialen Bereich mehr geschah als in den beiden vorausgegangenen Jahrhunderten.

    Das 19. Jahrhundert brachte sozialgeschichtlich die Ablösung der Ständegesellschaft durch die Massengesellschaft des kapitalistischen und industriellen Zeitalters. Bürgertum und Arbeiterschaft wurden zu den gesellschaftlich ausschlaggebenden Schichten. Hatte es in der Anfangszeit noch eine gemeinsame Frontstellung gegen das Machtmonopol des Adels gegeben, so grenzten sich die Bürgerlichen spätestens seit 1848 von den Zielen des "Vierten Standes" ab. Die Situation der Arbeiter, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ständig wuchs, war in der Aufbauphase des Kapitalismus durch Verelendung und brutale Ausbeutung gekennzeichnet. Dieser Lage entsprangen die Forderungen nach einer gerechteren Eigentums- und Gesellschaftsordnung und politischer Gleichberechtigung, die in unterschiedlichsten sozialistischen Modellen (utopischer Sozialismus, Anarchismus, Marxismus) gipfelten. Als Organisationsformen der Arbeiterschaft bildeten sich Mitte des Jahrhunderts Gewerkschaften und politische Parteien, die eine stetige Verbesserung der Lage erkämpften. Staatliche Reformmaßnahmen setzten in England bereits 1833 ein und ab 1872 wurde Deutschland führend in der Sozialgesetzgebung. Parallel dazu formierte sich die Frauenbewegung, die in der Zeit von 1850 bis zur Gegenwart in allen Ländern der Erde in zunehmendem Maße die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzte. Aber auch die Frauenbewegung spaltete sich unter dem Druck der Entwicklung zur Massengesellschaft von Anfang an in eine bürgerliche und eine "proletarische" Richtung.

    Der fortschreitende soziale Aufstieg des Vierten Standes führte in den europäischen Industrienationen zu seiner allmählichen Loslösung von Klassenkampf- und Revolutionsideen und damit zu einer Abkehr vom konsequenten ideologischen Marxismus. In Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie, aber auch durch die nivellierende Wirkung autoritärer und kriegsbedingter Maßnahmen fand er den Weg zu seiner Eingliederung in die demokratische Gesellschaft. In Russland, in Teilen ehemals kolonialer oder imperialistisch beherrschter Räume wie Indien und China, also in wenig oder nicht industrialisierten Gebieten, blieb dagegen das alte ideologische Modell der Kommunisten Grundlage der weiteren theoretischen und praktischen Entwicklung.

    Im 19. Jahrhundert kam, kulturgeschichtlich gesehen, die Geisteshaltung der Aufklärung erst richtig zum Durchbruch. Sie überwand die Gegenströmungen des angelsächsischen Irrationalismus und der kontinentalen Romantik von der Mitte des Jahrhunderts an endgültig. Im Nationalismus spielten irrationale und romantische Kräfte zwar weiterhin eine Rolle, aber im Zeitalter des Imperialismus wurde auch er mehr und mehr Ausdruck materiellen, wirtschaftlichen Machtstrebens.

    Der Sieg des Rationalismus im Abendland zeigt auf der Aktivseite der historischen Bilanz eine Befreiung der wissenschaftlichen und künstlerischen Schöpferkraft, die sich in der gewaltigen technischen, zivilisatorischen und wirtschaftlichen Expansion, aber auch in einer Ausweitung säkularisierter Welterfahrung und Weltdeutung in fast allen Bereichen der Literatur und der bildenden Kunst äußert. Auf der Passivseite dieser Entwicklung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr an Gewicht gewann und schließlich die geistige Krisis der modernen Welt auslöste, stehen die Materialisierung der Lebensformen, der Untergang der alten abendländischen, in Christentum, Humanismus und Idealismus verankerten Wertewelt, die Sinnentleerung eines der Masse und ihrer technisch-zivilisatorischen Betriebsamkeit ausgelieferten Daseins in beziehungsloser Isolation und das Aufkommen von Ersatzreligionen, für die der Marxismus, der Darwinismus oder die Philosophie Nietzsches beredte Beispiele sind.

    Die moralisch-geistige Krisis der modernen Welt kündigte sich an im Zusammenbruch der naiven Fortschrittshoffnungen der Aufklärer. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren die gebildeten Schichten bereits von einem tiefen Pessimismus erfasst. Im Gegensatz zur aufklärerischen Meinung, man könne die Welt des Menschen aus den Kräften der Vernunft auf die Bahn einer stetigen Vervollkommnung führen, wuchs die Einsicht in die Ohnmacht der Ratio, dem aus alten religiösen und ethischen Bindungen zumindest teilweise entwurzelten Menschen ein tragfähiges Wertsystem und eine neue Sinndeutung seines Daseins zu vermitteln. Die Jugendbewegung versuchte ein neues Lebensgefühl und ein neues mitmenschliches Verhältnis vorzuleben. Aber entfesselte Leidenschaften führten die geistigen Strömungen der Endphase extremen Formen und Haltungen entgegen. Das Nationalgefühl entartete in Imperialismus, Chauvinismus - wie im Panslawismus oder Pangermanismus -, der radikale Sozialismus wurde im Anarchismus auf die Spitze der Verneinung der historisch gewordenen Gesellschafts- und Staatsordnung getrieben, der man jede Fähigkeit zur organischen Fortentwicklung absprach. Im Bereich der Wirtschaft schritt im Zeichen des Industrialismus und Hochkapitalismus die Entwürdigung und Entmenschlichung der Arbeit und des Arbeiters fort.