Geschichte: England und Frankreich

    Aus WISSEN-digital.de


    Frankreich

    Die staatliche Entwicklung Frankreichs und Englands und schließlich auch Spaniens ging einen anderen Weg als die Deutschlands. An der unterschiedlichen Auswirkung des Lehnswesens in diesen Ländern und in Deutschland lässt sich die Offenheit ein und derselben politisch-historischen Grundform für vielseitige Entfaltungsmöglichkeiten erkennen. In England und Frankreich gelang es dem Königtum, seine Vormachtstellung gegenüber den großen Lehnsträgern des Reiches zu behaupten. So steht am Ende des historischen Prozesses dort die Staatseinheit anstelle der Zersplitterung in der deutschen Geschichte.


    Mehrere Faktoren haben in Frankreich die Stärkung der Zentralgewalt im Lehnsstaat begünstigt: Die Festigung des Erbrechts, die Langlebigkeit der Herrscherdynastie, der systematische Ausbau des Königsgutes vom Mittelpunkt des Pariser Beckens aus, die feste Residenz der Könige in Paris, die aus römischer Rechtstradition erwachsende Bildung eines königlichen Rechtes und eines ihm dienenden Juristenstandes, die uneingeschränkte Verfügbarkeit der ritterlichen Vasallen, schließlich, zum Ende des Mittelalters, die Einführung einer regelmäßig von der königlichen Verwaltung erhobenen Steuer (taille), aus der ein stehendes Heer finanziert werden konnte, und die Festigkeit der Grenzen.

    Dass der Widerstand der großen Vasallen gegen die Zentralgewalt gebrochen werden konnte, erklärt sich aber auch aus dem siegreichen Kampf des Königtums gegen die englischen Eindringlinge im Hundertjährigen Krieg (1339-1453). Er hat die französische Monarchie zwar an den Rand des Abgrunds geführt; Frankreichs endgültiger Triumph bedeutete aber auch die Überwindung seiner inneren Widersacher.

    Von 987 bis 1328 herrschten in Frankreich Könige aus dem Hause der Kapetinger. Sie mussten ihre Macht über Frankreich noch mit den großen Vasallen teilen. Französische Teilgewalten griffen mit ihrer Herrschaft über Frankreich hinaus. Die Normannen eroberten 1066 England und machten sich zu Herren über die angelsächsischen Teilstaaten, die Anjous beherrschten als Könige von Neapel große Teile Süditaliens von 1268-1435. In England regierte das Haus Anjou-Plantagenet seit 1154.

    Philipp II. August (1180-1223) gelang das Einziehen der großen Lehen der Normandie, der Bretagne, der Maine, der Touraine und des Poitou zugunsten der Krone. Damit war ein entscheidender Schritt zur Begründung eines französischen Einheitsstaates vollzogen. Um die so gewonnene Stellung dauernd zu sichern, verbündete sich Philipp August mit den deutschen Staufern gegen den englischen König und den mit diesem verwandten Welfen Otto IV. (1198-1218), der in Deutschland mit dem Staufer Philipp von Schwaben um Königs- und Kaiserwürde kämpfte. Der Sieg in der Schlacht bei Bouvines im Jahre 1214 brachte dem französischen König alle englischen Besitzungen nördlich der Loire ein. England und Frankreich waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu europäischen Machtfaktoren aufgestiegen.

    Ludwig IX., der Heilige (1226-1270), gewann dann im Zuge der Albigenser-Kriege (1202-1229; "Albigenser" nennt man nach der Stadt Albi eine von der katholischen Lehre abweichende religiöse Bewegung, die als Ketzerei verfolgt wurde) das Gebiet des Languedoc für die königliche Macht.

    Unter ihm wurde die Verwaltung des Staates im Parlament von Paris, einem obersten Hofgericht, zentralisiert. Als weltliche Mitglieder gehörten ihm die Herzöge der Bretagne, der Guyenne und von Burgund, die Grafen von Toulouse, der Champagne und von Flandern an; geistliche Mitglieder waren der Erzbischof von Reims und die Bischöfe von Beauvais, Châlons-sur-Marne, Noyon, Lyon und Langres. Bedeutende Rechtsgelehrte traten in den königlichen Justiz- und Verwaltungsdienst und bildeten ein bürgerliches Fundament der königlichen Gewalt. Dieser Gerichtshof wurde zugleich ein Instrument des Königs im Kampf mit der Kirche um seine Vorherrschaft über den hohen Klerus.

    Die Kirche Frankreichs war niemals mit den Herrschaftsrechten ausgestattet, die der hohen deutschen Geistlichkeit durch das ottonische System gegeben waren. Sie erwies sich auf die Dauer als zuverlässiger Verbündeter des Königtums. Der Machtkampf zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, der im deutschen Imperium mit voller Schärfe ausgetragen wurde, berührte Frankreich nur am Rande.

    Als die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst mit dem Tod Kaiser Friedrichs II. (1250) zugunsten des Papsttums beendet war, zeigte sich alsbald, dass die Päpste im Kaiser nicht so sehr ihren großen Rivalen um die Führung des Abendlandes, als vielmehr den Garanten der alten Ordnung in Europa und damit ihren eigenen Schutzherrn tödlich getroffen hatten. Nutznießer wurden die Franzosen. König Philipp IV., dem Schönen (1285-1314), gelang es, Papst Klemens V. zur Annahme der französischen Schutzherrschaft und zur Verlegung der päpstlichen Residenz nach Avignon (1309) zu bewegen. Von diesem Zeitpunkt an geriet das Papsttum in eine Abhängigkeit von der französischen Politik, die schließlich in der Spaltung der Kirchenführung, dem "Abendländischen Schisma" gipfelte (ein Papst in Rom, einer in Avignon).


    Der König hatte in dieser Auseinandersetzung mit dem Papsttum zum erstenmal die Generalstände einberufen. Geistlichkeit, Adel, Bürger und Bauern stellten sich hinter den König als die "einzige Autorität neben Gott". Die bürgerlichen Rechtsberater stärkten die königliche Macht und ebneten ihr den Weg zum Absolutismus. Zentralbehörden, Hofgericht, Staatsrat und Finanzkammer waren die Instrumente einer Verwaltung, die teilweise schon moderne Züge trug. Der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich (1339-1453) wurde ausgelöst durch den Erbfolgestreit zwischen Philipp VI., dem ersten König aus dem Hause Valois, und Eduard III. von England. Beide konnten sich auf ihre Verwandtschaft mit den Capetingern berufen. Der Krieg endete schließlich mit dem Sieg der Valois. Vorbereitet hatte diesen Sieg das Eingreifen der Jeanne d'Arc, der "Jungfrau von Orléans", eines Bauernmädchens, das aus visionärem Erleben von religiös-patriotischen Ideen besessen war. Johannas Erfolge führten zur Krönung Karls VII. in Reims (1429) und zur Auflösung der englisch-burgundischen Koalition zugunsten eines Bündnisses zwischen Karl VII. und Philipp dem Guten von Burgund.

    Mit dem Rückzug der Engländer, die 1436 Paris, 1449 Rouen und schließlich allen Besitz in Frankreich bis auf Calais aufgeben mussten verringerte sich auch der Einfluss der großen Lehnsträger Frankreichs, die aus der Schwäche des Königtums während des Krieges Nutzen gezogen hatten. So konnte am Ausgang des Mittelalters Ludwig XI. (1461-1483), der Sohn und Nachfolger Karls VII. den letzten Widerstand der Kronvasallen gegen die Zentralgewalt brechen und die Grundlagen für die absolute Gewalt des französischen Königtums legen, die dann zwei Jahrhunderte später unter Ludwig XIV. ihren Höhepunkt erreichte.

    England

    In England baute seit Wilhelm dem Eroberer die Normannische Dynastie (1066-1154) das Lehnssystem aus. Die grundherrlichen Verhältnisse wurden im Landesregister von 1086, dem Domesday Book, aufgezeichnet. Die Rechte des Königs und des Hochadels wurden in England genau festgelegt, zuerst in der Krönungs-Charta Heinrichs I., danach unter dem Hause Anjou-Plantagenet in der "Magna Charta libertatum" (1215).

    Das Königtum bediente sich jedoch des Parlaments, um seine lehnsrechtliche Vormachtstellung gegenüber den großen Vasallen zu wahren. Zu dieser Institution, einer gelegentlich einberufenen Versammlung, fand bald auch das Bürgertum Zutritt. Heinrich III. (1216-1272) nutzte die Möglichkeit, bürgerliche Parlamentsmitglieder zu berufen, als Mittel, um die Vormacht des Adels zu brechen. Unter Eduard I. waren im Parlament Hochadel (Inhaber der Kronlehen), Ritter und Bürger vertreten. Zu seiner Zeit war durch die Entwicklung des Parlaments die Gefahr des Lehnspartikularismus bereits gebannt.


    Der weitere Gang der Geschichte war bestimmt durch die Rivalität zwischen König und Standesvertretung. Das Königtum wollte dem allgemeinen Zug der Entwicklung auf dem Kontinent folgen und strebte die absolutistische Regierungsform an. Während des Hundertjährigen Krieges (1339-1453) spaltete sich das Parlament in Unterhaus und Oberhaus. Bürgertum und Adel standen sich nunmehr konkurrierend im Parlament gegenüber, das als Ganzes seine Rechte gegenüber dem durch Kriegsund Finanznöte geschwächten Königtum erweiterte. Dennoch wäre es vielleicht nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges zu einer Restauration der Adelsmacht gekommen, wenn dieser Konflikt nicht sogleich durch das Ringen der beiden Häuser der Roten Rose (Lancaster) und der Weißen Rose (York) um die Nachfolge der Plantagenets abgelöst worden wäre (1455-85). Erst nach der Beendigung dieses 30-jährigen Bürgerkrieges, der das ganze Land in zwei Lager gespalten hatte, konnte das Haus Tudor (1485-1603) die königliche Gewalt wieder festigen.