Geschichte: Der Niedergang Chinas

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    Der Prozess der Verwandlung Chinas in eine europäische Kolonie, der mit der Niederlage im Opiumkrieg und dem Nangking-Vertrag von 1842 (Öffnung von fünf Vertragshäfen, Abtretung Hongkongs) eingeleitet worden war, nahm in der gleichen Zeit seinen Fortgang, in der es Japan gelang, zur Selbstständigkeit und zur Großmachtstellung aufzusteigen. Das Jahr 1860 brachte nach einer erneuten militärischen Niederlage gegenüber englischen Expeditionstruppen im Vertrag von Peking weitere Rechte für die Invasoren: Vergrößerung Hongkongs, freie Schifffahrt auf dem Jangtse, eigene Gerichtsbarkeit der Engländer in China, Errichtung der Pekinger Gesandtschaft und Öffnung weiterer Häfen für Europäer. Wirtschaftlicher Niedergang und Verschuldung an das Ausland waren die Folgen dieser Ausbeutung. Adel und Bauern verarmten; nur eine sich neu bildende Mittelschicht von Kaufleuten, die nach kapitalistischen Grundsätzen arbeitete und mit England kollaborierte, zog Profit aus der Lage. Südchina, wo diese Entwicklung zuerst einsetzte, wurde daher auch zur Heimat erster revolutionärer Bewegungen (Taiping-Aufstand), gefördert durch das Eindringen sozialer Theorien aus Europa.

    Seit 1868 begann auch der Druck Japans mehr und mehr auf China zu lasten. Die imperialistischen Pläne Japans zielten auf die Schaffung eines Vorfeldes ab, dem die Mandschurei und Ostchina angehören sollten und das unter günstigen Umständen auch auf das übrige China ausgedehnt werden konnte. 1877/79 nahm Japan die Bonin- und Riukiu-Inseln, 1876 begann seine Einflussnahme auf Korea. 1894/95 gingen im japanisch-chinesischen Krieg Korea und Formosa an Japan verloren. Der Griff nach der Mandschurei wäre in diesem Frieden (Shimonoseki) den Japanern bereits geglückt, hätten nicht Russland, Deutschland und Frankreich Einspruch erhoben. Der Boxeraufstand des Jahres 1900, in dem sich der Hass gegen "die fremden Teufel" entlud, konnte am Gang der Dinge wenig ändern. Frankreich hatte sich seit den sechziger Jahren Indochina botmäßig gemacht und es vom chinesischen Reich losgetrennt.

    Um die Mandschurei aber ging der Kampf zwischen Japan und Russland. Der Friede von Portsmouth (1905) nötigte Russland zum Zurückweichen; es blieben ihm nur die 1858 und 1860 (Wladiwostok) von China erworbenen nordmandschurischen Gebiete. Japan begann systematisch mit der Durchdringung seines neuen Einflussgebietes, bis es schließlich 1932 das Kaiserreich Mandschukuo (bis 1945) als japanisches Protektorat schaffen konnte. Mit den Reformgesetzen K'ang Yu-weis wurde 1898 auch in China die Umwandlung in einen bürgerlich-kapitalistischen, in der modernen Welt lebensfähigen Staat versucht. Doch was in Japan glückte, scheiterte im Reich der Mitte. Schuld daran war der Widerstand der herrschenden Schichten, aber auch die Tatsache, dass es in China - den Süden ausgenommen - kaum Ansätze eines selbstbewussten und leistungsfähigen Bürgertums gab.


    Die reaktionäre Politik der Kaiserin Ts'e-hi und des Prinzen Ch'un besiegelte das Schicksal der Reformbewegung und schürte die allgemeine Unzufriedenheit, die sich 1911 in der Revolution der "Jungchinesen" entlud. Sun Yat-sen, der erste Präsident der provisorischen Regierung von Nangking, erreichte durch kluge Politik die Zusammenarbeit mit dem mächtigen General Yuan Schi-k'ai, der die Mandschu-Dynastie 1912 zum Thronverzicht veranlasste und nach Suns freiwilligem Rücktritt 1912 Präsident wurde.

    Die Republikaner sahen sich der geradezu unlösbaren Aufgabe gegenüber, eine neue, sinnvolle, demokratische Ordnung im Lande zu schaffen. Der grundbesitzende Hochadel war - ebenso wie seine moralische Grundlage, der Konfuzianismus - in Auflösung begriffen, das Bürgertum unsicher in seinem Wollen, das Bauerntum aber weithin verelendet und politisch völlig ungebildet.

    So wird verständlich, warum Sun Yat-sens Vorstellungen von einer Dreiphasenentwicklung Chinas - nationales Eigenleben, parlamentarische Demokratie, Sozialismus -, wie sie in seinen programmatischen Schriften zum Ausdruck kommen, letztendlich scheitern mussten. Die Selbstständigkeit der Generäle und Gouverneure verhinderte überdies ein durchgreifendes Wirken der republikanischen Regierung. Yuan löste 1914 das Parlament auf und regierte als Militärdiktator. Nach seinem Tod (1916) kämpften regionale Militärcliquen fast zehn Jahre um die Herrschaft im Norden.

    Suns Versuch, von Kanton aus eine Regierung aufzubauen, scheiterte. Seine Revolutionspartei wandelte sich unter verstärkter Aufnahme sozialistischer Ideen in die Volkspartei (Kuomintang), der alsbald in der im Süden entstandenen kommunistischen Partei ein gefährlicher Konkurrent erwuchs, wenn man sich ihr auch zunächst in einer Art Volksfront verbündete. Der Tod Sun Yat-sens 1925 lockerte die Disziplin innerhalb der Kuomintang. Sein Nachfolger in der tatsächlichen Machtstellung, Tschiang Kai-schek, entschloss sich zum Kompromiss mit dem kapitalistisch-konservativen Norden und erreichte so die Wiedervereinigung von Nord und Süd. Zugleich aber blieb die große soziale Reform auf dem Papier stehen. Der Angriff Japans 1937 fesselte danach alle Kräfte des Reiches und lenkte von den inneren Problemen ab.