Geschichte: Russland (Neuzeit)

    Aus WISSEN-digital.de

    Gleich Frankreich war auch Russland im europäischen wie im weltpolitischen Spiel gefesselt. Innenpolitisch hielt es an den absolutistischen Traditionen fest. Das Übergewicht außenpolitischer Probleme spielte dabei eine maßgebliche Rolle.


    Diese Entwicklung begann schon unter dem großen Gegenspieler Napoleons I., dem Zaren Alexander I. (1801-1825). Die Politik seines Vaters und Vorgängers Pauls I. verleugnend, vollzog er die Wendung zur antifranzösischen Koalition und enttäuschte zugleich bitter die Hoffnungen seiner liberalen Freunde. Den Frieden von Tilsit (1807) schloss er aus reinem Opportunismus. An der mangelnden Bereitschaft Russlands, sich an der Kontinentalsperre gegen England zu beteiligen, ging sehr bald das russisch-französische Bündnis in die Brüche. Entgegen seinen Bestimmungen beteiligten sich 1809 keine russischen Truppen am Krieg Napoleons gegen Österreich.

    Der Entschluss Napoleons, die Lage durch einen Angriff auf Russland zu klären, brachte dann den angesammelten Zündstoff zur Explosion. Das russische Interesse an Polen spielte bei der Verfeindung mit Napoleon eine wichtige Rolle. Es kam auch in den Gegensätzen zwischen den russischen und den preußisch-österreichischen Wünschen auf dem Wiener Kongress zum Ausdruck. Als ein Kompromiss gefunden war, zeigte sich schnell das gemeinsame Interesse Russlands und der übrigen europäischen Mächte in der Heiligen Allianz von 1815 gegen die liberalen und nationalen Tendenzen der Zeit.

    Dennoch erlebte auch das reaktionäre Russland die wirtschaftlichen Veränderungen des Westens. Industrialisierung, Entstehung eines Industrieproletariats und Ausbildung eines modernen Bank- und Finanzwesens waren die Kennzeichen der neuen Zeit. Die Bauernschaft Russlands wurde als Stiefkind behandelt. Es kam nicht einmal zur Aufhebung der Leibeigenschaft. 1825 scheiterte der Aufstand der Dekabristen, einer Gruppe von westlich gesinnten liberalen Adligen, Offizieren, Professoren und Studenten, die das Steuer in Russland herumwerfen wollten. Darauf folgte für Russland unter Nikolaus I. eine Epoche verschärfter Reaktion mit dem Aufbau eines bürokratischen Polizei- und Überwachungssystems im Innern, der Unterdrückung revolutionärer Bewegungen (Polen, Ungarn, Deutschland) und einer Expansion im mittleren Osten in der Außenpolitik.

    Nach 1848 bildeten sich in Russlands geistiger Elite zwei einander feindlich gesinnte Gruppen heraus, die Anhänger westlicher liberaler und sozialistischer Ideen und die Slawophilen, die eine slawisch-nationale Tradition zu entwickeln versuchten. Ihre das russische Volkstum idealisierende Ideologie wandelte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einem expansiven Nationalismus (Panslawismus).


    Großen Einfluss auf die öffentliche Meinung gewann Alexander Herzens Emigrationszeitschrift "Kolokol". Herzen vertrat die Auffassung, dass Russland durch sein Gemeinde- (Mir-) System zur Verwirklichung einer idealen Gesellschaftsordnung prädestiniert sei.

    Als der Krimkrieg 1853-1856 das System der Heiligen Allianz zerbrechen ließ und der russischen Außenpolitik militärisch und diplomatisch eine schwere Niederlage einbrachte, entschloss sich Alexander II. (1855-1881) zu inneren Reformen, um die geistige, wirtschaftliche und militärische Wehrkraft Russlands zu erhöhen. 1861 wurde nach gründlicher Vorbereitung die Bauernbefreiung verwirklicht. Die erhoffte soziale Entspannung blieb allerdings aus. Die Bauern litten unter der unzureichenden Landverteilung und der hohen Verschuldung an ihre Feudalherrn, zudem mangelte es ihnen an der Fähigkeit zu selbstständiger Wirtschaftsführung. So hinterließ die Reform bei den Beschenkten wie bei den betroffenen Grundbesitzern Unzufriedenheit.

    Neuerungen im Erziehungs- und Gerichtswesen sowie in der Verwaltung folgten. Nach der Ermordung Alexanders II. (1881) kam es unter seinem Nachfolger Alexander III. (1881-1894) zu einer Politik der verstärkten Reaktion und einer rücksichtslosen Russifizierung in den Grenzgebieten. Die starken inneren Spannungen, die sich angesichts des erneuten Misserfolgs Russlands während des russisch-türkischen Krieges von 1877/78 geäußert hatten, nahmen zu. Die allgemeine Unzufriedenheit entlud sich in zahlreichen Pogromen und politischen Morden.


    Die radikalisierte Intelligenz formierte sich in anarchistischen (Bakunin) und nihilistischen Gruppen und bekämpfte den Staat mit terroristischen Methoden, während die Narodniki (Volkstümler) durch Bildungs- und Aufklärungsarbeit eine Politisierung der Massen zu erreichen suchten. Für die weitere Geschichte Russlands war die Epoche Alexanders III. aber in einem anderen Sinne entscheidend. Es entwickelten sich die politischen Parteien, so die der Sozialrevolutionäre und der Konstitutionellen. Die Sozialdemokratie, 1883 durch Georgij Plechanow gegründet, spaltete sich 1903 auf dem Kongress in Brüssel und London in die radikalere Partei der Bolschewiken unter Führung Wladimir Uljanows (Lenin), der die Diktatur des Proletariats durch eine Elite-Partei durchsetzen wollte, und die Partei der Menschewiken (Trotzki), die den Weg der Evolution zu gehen gedachten.

    Unter Nikolaus II. (1894-1917) erlebte das Haus Romanow und mit ihm das Zarenreich den letzten Akt seiner Geschichte. Nikolaus II. glaubte, man könne wirtschaftliche Modernisierung mit einem konservativ-autokratischen politischen Kurs verbinden. Als sich Russland unter ihm erneut in ein erfolgloses militärisches Abenteuer, den Krieg gegen Japan (1904/05), einließ, hielten die Reformparteien den günstigen Augenblick für gekommen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Die Aufstände des Jahres 1905 zwangen den Zaren, eine Verfassung zu bewilligen. Die Liberalen waren befriedigt und die Revolutionsräte (Sowjets) sahen sich isoliert.


    Der Generalstreik und der Dezemberaufstand in Moskau wurden durch das Militär gebrochen. In der 1. Duma von 1906 besaßen die liberalen und konservativen Kräfte die Oberhand (Bolschewiki und Menschewiki hatten nicht kandidiert). Trotz einer Reihe von Agrarreformen (1906/10, Auflösung des Mir-Systems, Flurbereinigung, Siedlungsprojekte) wuchs das ländliche Proletariat und verstärkte die sozialistischen Kräfte. Als deren Einfluss in der 2. Duma anwuchs, verfügte der Kaiser eine Wahlrechtsänderung und sicherte damit eine konservative Mehrheit.

    Die Entwicklung der Endphase des Zarenreiches, die zur bolschewistischen Revolution von 1917 führte, wurde durch zwei grundlegende Faktoren bestimmt. Der eine lag in der willkürlichen Handhabung der Verfassung durch den Zaren, der die Duma nach Gutdünken auflöste oder wieder einberief, der andere in der schweren Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg. Es kann kaum Zweifel darüber herrschen, dass Russland bei einem ehrlichen konstitutionellen Regime des Zaren im Innern und bei vorsichtiger Politik nach außen den organischen Weg der friedlichen Evolution gegangen wäre. So aber ist das alte Russland in der Feuerprobe des Ersten Weltkrieges seiner inneren Struktur wie seiner äußeren, europäischen und weltpolitischen Funktionen nach endgültig untergegangen.