Geschichte: England und die europäischen Mächte von 1815 bis zum Ersten Weltkrieg

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    Von den europäischen Nationen war nach 1815 England die einzige Weltmacht. Es erstrebte in Europa ein Gleichgewicht der Kräfte (Balance of Power), um die Vorherrschaft einer Macht zu verhindern, die den Kontinent - wie Napoleon I. es getan hatte - gegen England vereinen konnte. England wandte sich daher nicht gegen Veränderungen der europäischen Machtverhältnisse, solange sie die Gleichgewichtslage nicht empfindlich störten. Es duldete deshalb die Heilige Allianz (1815) Preußens, Russlands und Österreichs als außenpolitisches Gegengewicht zu Frankreich. Gleichzeitig aber ermutigte es die innenpolitischen Gegner der Allianz. England wandte sich sofort gegen Russland, als dieses 1853 die Türken angriff, um über türkisches Gebiet Zugang zum Mittelmeer zu gewinnen und sich bei dem allgemein erwarteten Zusammenbruch des "kranken Mannes am Bosporus" seinen Teil an der Beute zu sichern.

    Der Streit um die heiligen Stätten Jerusalems lieferte Russland dabei den Vorwand, zugunsten der Christen einzugreifen. England schloss 1854 ein Bündnis mit Frankreich, das unter Napoleon III. einen außenpolitischen Prestigeerfolg brauchte, um innenpolitische Schwierigkeiten zu übertünchen und seine Machtstellung in Europa wieder auszubauen. 1855 schloss sich auch Sardinien-Piemont dem Bündnis an, um die Großmächte für seinen bevorstehenden Kampf mit Österreich-Ungarn zu gewinnen und die Italienfrage vor ein europäisches Forum zu bringen. Die Verbündeten griffen an der Seite der Türkei in den Kampf ein und brachten Russland im Krimkrieg (1853-56) eine schwere Niederlage bei.

    Österreich blieb neutral, nahm jedoch eine drohende Haltung gegen Russland ein und besetzte die zuvor türkischen Donaufürstentümer Moldau und Walachei, nachdem die russischen Truppen unter dem Druck der Verbündeten diese Gebiete geräumt hatten. Der Fall Sewastopols und Österreichs Haltung zwangen Russland zur vorläufigen Aufgabe seiner Ziele und 1856 zum Frieden von Paris. Russland musste den Südteil Bessarabiens an die Türkei abtreten, der Schutzherrschaft über die Christen im Osmanischen Reich entsagen und in die Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres einwilligen. Die Dardanellen wurden für Kriegsschiffe gesperrt.

    Durch die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und Österreich war die Heilige Allianz als Machtblock endgültig gesprengt, nachdem sie schon vorher den Belastungen der Südamerikafrage (1816-1824) und der griechischen Frage (1821-1831) ausgesetzt gewesen war. Russland verlor seine europäische Vormachtstellung an Frankreich, England aber war der eigentliche Gewinner des Krimkrieges. Sein Seeweg nach Indien war nunmehr gegen die russische Expansion gesichert.

    England duldete auch den italienischen Einigungskrieg Frankreichs und Sardinien-Piemonts gegen Österreich von 1859/60 (Verlust der Lombardei an Frankreich, das die Lombardei wiederum an Piemont weitergibt) und die durch die revolutionäre Bewegung Garibaldis an der Seite Piemonts vollendete Gründung des italienischen Nationalstaats. Napoleon III. gewann dabei als "Trinkgeld" Savoyen und Nizza. 1861 wurde das Königreich Italien unter Viktor Emanuel II. proklamiert. Auch die Gründung des Deutschen Reiches widersprach nicht der Balance-of-Power-Politik Englands; dagegen hatte es noch bei der Eroberung Schleswig-Holsteins durch Preußen und Österreich mit dem Eingreifen gedroht, als Dänemarks - für England ungefährliche - Seemachtstellung ins Wanken geriet. Die kluge Politik Bismarcks verhinderte aber eine Kriegsausweitung.

    Die deutschen Einigungskriege von 1866 und 1870/71, in denen Preußen und Italien (Gewinn Venetiens) Österreichs mitteleuropäische Vormachtstellung vernichteten und Preußen gegen Frankreich die Gründung des Reiches erkämpfte, das die 48er Revolution vergeblich hatte schaffen wollen, stärkten das europäische Gleichgewicht.

    Die Mitte Europas war durch die Schaffung eines deutschen Nationalstaats stärker geworden; für England bot das neue Reich ein willkommenes Gegengewicht zu Russland. Frankreich war durch seine Niederlage von 1870/71 in die Schranken gewiesen. Italien war keine Macht von Bedeutung; vor allem fehlte ihm eine leistungsfähige Flotte. Es war auf das Wohlwollen Englands angewiesen.

    Unter der Rückendeckung des europäischen Gleichgewichts konnte die Weltmacht England ihren außereuropäischen Machtbereich ausdehnen. Damit begann eine neue Epoche des Imperialismus. 1819 gewann England Singapore, 1839 Aden. 1842 wurde Hongkong erobert, nach gewaltsamer Öffnung Chinas für den britischen Handel im Opiumkrieg. 1857 festigte England seine Stellung in Indien nach der Niederwerfung des Sepoyaufstandes. Es ersetzte die Herrschaft der Handelskompanie durch das Regiment der Vizekönige (1858). 1877 nahm Königin Viktoria den Titel einer Kaiserin von Indien an. 1875 brachte Großbritannien den 1869 eröffneten Suezkanal durch Aufkauf der Aktienmehrheit in seine Hand; die französischen Erbauer aber kontrollierten von da an Ägypten gemeinsam mit England. Die seit 1871 veränderte Machtlage auf dem Kontinent hätte sich aber auch zu Ungunsten Englands auswirken können, da sowohl Frankreich als auch Russland eine janusköpfige Außenpolitik betrieben. Sie erstrebten eine koloniale Ausdehnung genau wie England, waren aber andererseits in Europa gebunden - Russland durch seinen Gegensatz zu Österreich auf dem Balkan und später durch den Panslawismus auch zu Deutschland, Frankreich durch seinen Gegensatz zu Deutschland, den seine Niederlage von 1870/71 verschärfte. Bezeichnend dafür wurde die Algerienpolitik Frankreichs, das hier aus einer Kolonie vor allem einen militärischen Exerzierplatz, ein Machtreservoir zu gestalten suchte, das dem Kriegsministerium unterstand.

    Die Außenpolitik Bismarcks in den Jahren 1871-1890 bewegte sich zwar im Rahmen der Gleichgewichtspolitik Englands, wenn sie den europäischen Frieden durch Ausbalancierung der Interessen wahren wollte, brachte aber auch erhöhte Gefahren für die weltpolitische Stellung des britischen Reiches, denn Russland und Frankreich konnten sich kolonialen Zielen zuwenden, da ihnen die erfolgreiche Friedenspolitik Bismarcks in Europa den Rücken freihielt. Durch das Dreikaiserbündnis zwischen Russland, Österreich und Deutschland von 1872 war die französische Macht auf dem Festland gebunden. 1877/78 wiederholte Russland die Krimkriegspolitik im russischtürkischen Krieg. Der Panslawismus wirkte dabei als ideologischer Antrieb. Der Sieg der Russen führte zur Befreiung Serbiens, Montenegros und Rumäniens und zur Lockerung der Abhängigkeit Bulgariens. Russland erhielt Bessarabien. Hier aber griff England ein, unterstützt von Österreich. Ein allgemeiner Krieg drohte. Er wurde verhindert durch Vermittlung Bismarcks, der 1878 den Berliner Kongress zustande brachte. Russland erhielt nur einen Teil der beanspruchten Gebiete, Österreich wurde Protektor über die Balkangebiete Bosnien und Herzegowina und England gewann die türkische, aber von Griechen bewohnte Insel Zypern als wichtige Mittelmeerbastion gegen den Imperialismus Russlands.

    Nach dem Berliner Kongress wahrte Bismarcks Außenpolitik die Stabilisierung der europäischen Machtverhältnisse: Österreich und Deutschland wurden 1879 im Zweibund vereint, der 1882 zum Dreibund mit Italien erweitert wurde. 1883 trat auch Rumänien bei; Bulgarien und die Türkei schlossen sich später den Mittelmächten an. Der Rückversicherungsvertrag zwischen Deutschland und Russland verhinderte einen französisch-russischen Zweibund gegen Deutschland; er sicherte Russland die deutsche Neutralität im Falle eines Balkankonfliktes mit Österreich und England.

    Gleichzeitig förderte Bismarck 1887 auch die italienische Initiative zum Abschluss einer Mittelmeerentente zwischen England, Italien und Österreich, die den Besitzstand der Türkei gegen einen etwaigen russischen Angriff garantierte. Angesichts der Schwäche seines außenpolitischen Sicherheitsgebäudes und der einsetzenden deutschen Kolonialpolitik hatte Bismarck 1884/85 mit dem Gedanken gespielt, das europäische Gleichgewicht durch eine gegen England gerichtete Allianz mit Frankreich zu ersetzen. Aber angesichts des französischen Misstrauens blieb alles nur eine Episode, der unter Salisbury eine Annäherung an England folgte. Seine Politik lag im Interesse Englands, da sie das Zusammengehen seiner gefährlichsten Gegner im Bereich der Kolonial- und Seepolitik, nämlich Frankreichs und Russlands verhinderte. Denn Frankreich, nunmehr einer imperialistischen Kolonialpolitik zugewandt, gewann Zug um Zug Einfluss und Gebiete in Afrika und am Indischen Ozean: 1881 wurde Tunis erworben, 1883 das Protektorat über Indochina errichtet, das 1896 in eine Föderation unter einem Generalgouverneur umgewandelt wurde. 1890 folgte eine Erwerbung in der Südsee (Tahiti), 1895/96 das Protektorat über Madagaskar (Kolonie seit 1898). Russland aber, auf eine Fernostpolitik abgedrängt, erwarb 1858-1860 Gebiete an der Pazifikküste (Wladiwostok), 1865-1873 Taschkent, Buchara, Samarkand und Chiwa und stieß 1883 in den mittelasiatischen Raum vor. Die Transkaspische Bahn wurde gebaut.

    Die Auflösung des von Bismarck geschaffenen Bündnissystems nach 1890 erschütterte das europäische Mächtegleichgewicht und führte so auch zu einer Bedrohung Englands. Die Sperrung deutscher Banken für Kredite an Russland trieb den Zaren in die Arme Frankreichs, das die Gelegenheit ergriff, sich aus seiner politischen Isolierung zu befreien. So kam es 1892 zum Abschluss der russisch-französischen Militärkonvention und 1894 zum russisch-französischen Zweibund, als Gegengewicht zum Dreibund Österreichs, Deutschlands und Italiens. Dieser Bund hatte nicht nur eine Spitze gegen Deutschland, sondern auch gegen den gemeinsamen Feind auf kolonial- und weltpolitischem Gebiet, gegen England. Die Lage wurde für England schwieriger durch den Aufstieg der neuen Großmächte Japan und USA. Der japanisch-chinesische Krieg von 1894/95 brachte die erste Kollision Japans mit den imperialen Interessen Englands und der anderen europäischen Mächte, die durch ihre Intervention größere Erwerbungen Japans verhinderten.

    Auch die Vereinigten Staaten von Amerika wurden weltpolitisch aktiv mit dem Kauf Alaskas von Russland (1867) und dem Eingreifen in Hawaii und Kuba (1898). Daraus ergab sich das Ausgreifen in den Pazifik, die Errichtung von Finanzprotektoraten über Mittel- und Südamerika und der Bau des Panama-Kanals. Nach der Beilegung des Venezuela-Grenzstreits (1895-97) kam es zu einer ersten britisch-amerikanischen Annäherung. Im Faschoda-Zwischenfall aber trat 1898 die englisch-französische Rivalität in Afrika offen zu Tage: Der französische Oberst Marchand wurde zum Rückzug gezwungen. Frankreichs Expansion musste sich auf Westafrika (Guinea, Sahara) beschränken, während England seine Ostafrikapolitik auf der Linie Kap-Kairo sicherte. Seit 1877 lag England im Streit mit den holländischen Siedlern (Buren = Bauern) um die Herrschaft in Südafrika. 1895 fielen bewaffnete Engländer in die Burenrepublik ein ("Jameson-Raid"). Der englische General W.F. Butler nannte diesen Rechtsbruch "die Quelle schicksalsschweren Unheils". Nach vorübergehenden Erfolgen der Buren in den Jahren 1881 und 1896 kam es im Burenkrieg (1899-1902) zur Eingliederung der Burenstaaten Südafrikas in das englische Weltreich. Seit 1895 strebte England nach Flottenüberlegenheit gegenüber seinen stärksten Rivalen (Two Power Standard) und festigte sein Empire durch Aufgabe des Freihandels zugunsten einer Reichsföderation mit den Kolonien, verbunden durch Sprache, Krone und Vorzugszölle.

    Endlich griff unter Wilhelm II. auch Deutschland in die Weltpolitik ein und trat als Konkurrent neben die imperialistischen Mächte. Die unter Bismarck erworbenen Schutzgebiete in Afrika - Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika - wurden zum Kolonialbesitz erklärt. Deutschland erwarb ferner Gebiete im Stillen Ozean, hauptsächlich die Karolinen, Marianen, Palau-Inseln und Samoa, dazu in China durch Besetzung bzw. Pachtvertrag 1897/98 Kiautschou und Tsingtau.


    Am meisten bedroht sah sich England jedoch durch die deutsche Einflussnahme in der Türkei mit der Eisenbahnkonzession von 1888 und der Bagdadbahn von 1903. Das Beispiel der Türkei zeigte, dass der sich allmählich verschärfende deutsch-englische Gegensatz durch das Zusammentreffen dreier Rivalitätsfaktoren bedingt war: des kolonialexpansiven, des wirtschaftlichen (Industrie- und Handelskonkurrenz) und des maritimen (deutscher Hochseeflottenbau: 1898 Flottengesetz unter Admiral von Tirpitz). Schon 1896 rief ein Leitartikel der "Saturday Review" zum Kampf gegen Deutschland auf. Da die Rivalität Englands mit Russland und Frankreich und die noch in den Anfängen steckende mit Japan und den USA diese starke Konzentration der Reibungsflächen nicht aufwies, traten sie allmählich hinter den deutsch-englischen Gegensatz zurück. Da sich Deutschland nach 1906 als einzige Seemacht auf einen Rüstungswettlauf im Bau überschwerer Schlachtschiffe mit weit reichender Artillerie ("Dreadnoughts") einließ, deren Überlegenheit alle bisherigen Typen schlagartig entwertete, wurde das Reich zum Hauptrivalen Großbritanniens um die Vormacht zur See.

    Die Epoche der Vereinsamung Deutschlands zwischen 1902 und 1914 brachte daher einen Ausgleich der Interessengegensätze zwischen England, Frankreich, Russland und Japan zugunsten eines gemeinsamen Vorgehens gegen Deutschland, nachdem um die Jahrhundertwende englisch-deutsche Bündnisverhandlungen an der Haltung der deutschen Außenpolitik, aber auch an Englands vagen Verhandlungsmethoden - bedingt durch die Uneinigkeit seiner Politiker - gescheitert waren. Im englisch-japanischen Bündnis von 1902 benutzte England Japan als Festlandsdegen gegen Russland im Fernen Osten. So erreichte es indirekt im russisch-japanischen Krieg von 1904/05 die Schwächung eines großen weltpolitischen Rivalen; Korea wurde japanisch, die Mandschurei wurde chinesisch, England aber gewann Tibet. 1904 kam es in der Entente cordiale zwischen England und Frankreich zu Absprachen über Afrika; Frankreich erhielt Marokko, England Ägypten als Interessengebiete zugewiesen. Die treibende Kraft dieser Politik war Eduard VII. von England.

    Nach der englisch-russischen Entente von 1907 mit ihren Absprachen über Afghanistan, Persien und Tibet sah sich Deutschland, als es Ansprüche in Marokko geltend machen wollte, den vereinigten Großmächten gegenüber. Italien gab gleichfalls zu erkennen, dass es im Kriegsfall nicht zum Dreibund halten würde, dessen Erweiterung durch die schwachen Staaten Bulgarien und Türkei keinen entscheidenden Machtzuwachs brachte.


    Die Marokkokrise und die Algeciraskonferenz (1905/06) offenbarten Deutschlands Isolierung. Das deutsche Auftreten gegenüber Frankreich führte allmählich zu einer Umwandlung der Entente von 1904 in ein Bündnis, wie die Aufnahme von Generalstabsbesprechungen im Jahr 1906 deutlich zeigt. Im Agadir-Zwischenfall von 1911, als das deutsche Kanonenboot "Panther" gegen die französische Machtausdehnung in Nordafrika demonstrierte, erreichte Deutschland nur Kompensation in Kamerun.

    Verhängnisvoll wirkte sich das Misslingen der Mission des englischen Kriegsministers Haldane aus, der 1912 einen Kompromiss mit Deutschland in der Flottenfrage einhandeln wollte. Sie scheiterte an der Weigerung der deutschen Regierung, den Flottenbau einzuschränken, aber auch an England, das die von Berlin geforderte Neutralitätserklärung für den Fall eines Festlandkrieges nicht abgeben wollte. 1912/13 erschütterten die Balkankriege den türkischen Bundesgenossen Deutschlands. Die von Russland gestützten Balkanstaaten Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland erhoben sich gegen die Türkei, die aus Europa fast völlig verdrängt wurde. Serbien und Rumänien gerieten danach mit Bulgarien (dem Bundesgenossen Deutschlands und Österreichs) in Kampf um die neue Gebietsgliederung. Schon damals drohte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der dann am 28. Juni 1914 durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares (Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin) durch serbische Nationaliste