Geschichte: England (Neuzeit)

    Aus WISSEN-digital.de


    Im frühen 19. Jahrhundert wurde die innere Geschichte Englands durch den stetigen Prozess der Demokratisierung bestimmt. Die Wahlreform von 1832 brachte die politische Gleichberechtigung der städtischen Mittelschichten mit der grundbesitzenden alten politischen Elite. Dadurch blieben England die Erschütterungen der vierziger Jahre erspart. Die schwerwiegenden sozialen Nöte, die durch die Industrielle Revolution ans Tageslicht gekommen waren, harrten freilich auch hier noch der Lösung.

    Die Chartistenbewegung suchte durch die Radikalisierung des Industrieproletariats ihre Forderungen nach politischer und sozialer Besserstellung durchzusetzen und zwang die Regierung zu einer Reihe von Reformmaßnahmen. 1833 wurde die Arbeitszeit für Jugendliche auf 12, für Kinder auf 9 Stunden begrenzt - im gleichen Jahr erfolgte auch die Abschaffung der Sklavenhaltung im britischen Empire. 1850 verfügte die Regierung den 10-Stunden-Tag und setzte Fabrikinspektoren ein. Frauen- und Kinderarbeit im Bergwerk wurde verboten. 1867 erhielten alle städtischen, 1884 auch die ländlichen Wohnungsbesitzer das Stimmrecht. Mit diesen Reformgesetzen hatte das herrschende Bürgertum dem klassenkämpferischen Sozialismus die Hauptangriffspunkte genommen und ihn dadurch überwunden. Durch einen friedlichen Wirtschaftskampf ihrer Organisation, der Gewerkschaften (Trade unions) und Genossenschaften verbesserten die Arbeiter allmählich auch ihre wirtschaftliche Lage.

    In dieser Epoche verwandelten sich auch die alten historischen Parteien der Whigs und Tories. Am Ende dieses Prozesses standen die großen Massenparteien der Liberalen und Konservativen, zu denen nach dem Ersten Weltkrieg die Labour Party trat, die das Erbe der dahinschwindenden Liberalen übernahm.

    Zu Fortschritten kam es auch in der Frage der rechtlichen Gleichstellung der Frau. Zwar wurde John Stuart Mills' Antrag zur Einführung des Frauenstimmrechts 1867 mit 186 zu 73 Stimmen abgelehnt; 1869 erhielten die Frauen jedoch das Gemeindewahlrecht, die Universitäten wurden ihnen geöffnet und 1876 wurden sie zum Arztberuf zugelassen. Dies waren Meilensteine auf dem Wege zur Gleichberechtigung. Auch für die wachsende Macht der öffentlichen Meinung in England gibt es eindrucksvolle Zeugnisse. Im Jahr 1835 existierten bereits 397 englische Zeitungen, darunter 71 in London. War schon 1693 die Zensur beseitigt worden, hatte 1772 die Parlamentsberichterstattung begonnen, so fiel 1855 die Sondersteuer für die Zeitungen, die der Entwicklung der "Penny-Presse", den Massenauflagen für die ärmere Bevölkerung, den Weg bahnte.

    In der ersten Hälfte des Viktorianischen Zeitalters entwickelte sich England unter dem Einfluss der liberalistischen Ideen Adam Smiths (Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776) und John Stuart Mills' (On Liberty, 1859) zur ersten Handels-, Industrie- und Wirtschaftsmacht der Erde. Seine globale Überlegenheit führte folgerichtig zum Freihandel (1846 Aufhebung der Kornzölle). In der Außenpolitik verfolgte England eine Politik der Friedenssicherung (Ausnahme: Opiumkrieg 1840-42 und Krimkrieg 1853-56), der Bündnisfreiheit und der splendid isolation. Die wirtschaftliche Stagnation ab den 1870er Jahren bewirkte dann den Übergang zur Politik des Imperialismus.