Geschichte: Das zweite Deutsche Reich

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    Der schnelle, für Deutschland erfolgreiche Waffengang verhinderte eine Kriegsausweitung und führte zur Gründung des zweiten Deutschen Reiches. 1871 wurde König Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser ausgerufen.

    Es entstand ein Bundesstaat nach dem Modell des Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung. Der Kaiser vertrat das Reich nach außen, führte den Oberbefehl über das Militär, ernannte den Kanzler und berief den Reichstag. Der Kanzler hatte den Vorsitz im Bundesrat (Vertretung der Bundesstaaten mit Gesetzgebungs-, Verordnungs- und Aufsichtsrechten) und war Vorgesetzter der Staatssekretäre und Reichsbeamten. Der Reichstag besaß nur begrenzte Befugnisse, am wichtigsten war das Budgetrecht.

    Die Struktur des Reiches zeigt die innenpolitische Mäßigung Bismarcks, aber auch den Kompromiss des konservativen Staatsmannes mit den liberalen und nationalen Kräften in der Schaffung einer konstitutionellen Monarchie. Die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts bedeutete allerdings für Bismarck weniger eine Konzession an die Demokratie als ein Instrument zur Stärkung der bundesstaatlichen Führungsgewalt. Auf der gleichen Linie lagen auch die starke Position des Kaisers und die preußische Hegemonialstellung aufgrund der Verfassung. So kam es nachträglich auch zu einer Lösung des Konflikts zwischen Parlament und Regierung.

    Das dritte Meisterstück gelang Bismarck mit der Wahrung des europäischen Friedens durch sein kunstvolles "Spiel mit den fünf Bällen", worunter die europäischen Großmächte zu verstehen sind. Sein Ziel war, in situationsgerechten außenpolitischen Bündniskombinationen (Dreikaiserabkommen mit Russland und Österreich 1873, Zweibund mit Österreich 1879 und Dreibund unter Einbeziehung Italiens 1882) den jeweils gefährlichsten Gegner Deutschlands zu isolieren. Das war zumeist Frankreich, zeitweise aber auch Russland. Dabei durfte er noch nicht einmal auf die wohlwollende Unterstützung Englands rechnen, obwohl er dessen Interessen (europäisches Gleichgewicht) wahrte. Die Bündnissicherung erlaubte den gefahrlosen Erwerb von Kolonien (Togo, Kamerun, ostafrikanische Schutzgebiete, Kaiser-Wilhelm-Land).

    Mit dem Aufkommen nationalistischer und imperialistischer Tendenzen in Europa wurde dieses Spiel freilich immer schwieriger. Zuletzt konnte es sich nur noch notdürftiger Aushilfen (Rückversicherungsvertrag mit Russland) statt echter Lösungen bedienen. Diese Tendenzen widersprachen der Ansicht Bismarcks, dass das gemeinsame wohlverstandene Interesse der europäischen Großmächte auf Stabilisierung der inneren (möglichst konservativ gefärbten) und äußeren Struktur Europas hinauslaufen müsse. Das Friedensinteresse Bismarcks wuchs auch aus der Erkenntnis, dass sich das 1871 geschaffene Deutsche Reich innerlich erst festigen müsse. Um dieser Festigung willen setzte er sich in seiner wenig erfolgreichen Innenpolitik mit den politischen Kräften des Katholizismus und der Sozialdemokratie, aber auch zuweilen mit dem extremen Liberalismus auseinander.


    Der Wunsch Bismarcks nach einer Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche zugunsten des staatlichen Machtanspruchs führte ab etwa 1870 zu einem sich verschärfenden Interessenkonflikt, der vor allem in Preußen mit harten gesetzgeberischen Maßnahmen ausgetragen wurde. Dieser "Kulturkampf" sah die liberalen Kräfte an der Seite des Kanzlers, während sich die katholische Seite in der Zentrumspartei organisierte. Es kam zum offenen Konflikt mit der Kirche, als der Staat die an sich unbedeutende dissidentische "Altkatholische" Bewegung unterstützte, die das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 ablehnte und von Rom unabhängig bleiben wollte. Die Religionslehrer dieser Richtung verweigerten den Widerruf und wurden vom Staat gestützt. Bischof Ketteler von Mainz wurde der Führer auf Seiten der Kirche. Bismarck lehnte eine außenpolitische Intervention zur Rettung des Kirchenstaates ab.

    Das Zentrum aber bezog eine betont partikularistische Stellung und kam in den Ruf der Reichsfeindlichkeit. Da verband sich Bismarck mit den Nationalliberalen. Er führte den Kampf mit Hilfe des "Kanzelparagraphen", der eine Freiheitsstrafe für Geistliche androhte, die von der Kanzel herab "Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise erörtern", mit der Jesuitenausweisung und der Einführung der Zivilehe (1873).


    Es folgten die "Maigesetze" in Preußen, die die staatliche Oberaufsicht über die Priesterausbildung und -anstellung brachten. Es kam zu Polizeimaßnahmen und Verhaftungen, selbst von Bischöfen. Als die Reglementierungen erfolglos blieben, strebte Bismarck einen Ausgleich an, der durch die entgegenkommende Haltung Papst Leos XIII. erleichtert wurde; die Ausdehnung der staatlichen Macht blieb jedoch durch Fortgeltung wesentlicher Gesetze erhalten.

    Durch den Abbau des Kulturkampfes verlor Bismarck schließlich die Unterstützung der Liberalen. Er fand sie statt dessen bei Zentrum und Konservativen. Mit ihnen brach er 1878/79 die liberale, freihändlerische Handelspolitik ab. Er erhöhte zum Schutz der deutschen Getreideproduktion den Zoll auf das billigere russische und argentinische Getreide, das zusätzlich eingeführt werden musste. Auf gleiche Weise schützte er die deutsche Eisenindustrie gegen das billige englische Eisen. Auch auf Holz und Vieh wurden Schutzzölle eingeführt, dazu "Finanzzölle" auf Kaffee, Tee und Wein und eine hohe Tabaksteuer. Damit erreichte Bismarck eine Stärkung der Reichsfinanzen. Dabei wurden Zoll- und Tabaksteuererträge, die eine gewisse Höhe überstiegen, auf Wunsch des Zentrums an die Bundesstaaten überwiesen (Franckensteinsche Klausel). Diese Politik bewirkte eine Stützung des Kapitalismus und der Industrialisierung, verteuerte aber die Lebenshaltung für die breite Masse. Sie trug dadurch wesentlich zur Verschärfung der sozialen Frage bei.

    Während Bismarck mit den bürgerlichen Kräften und Parteien immer wieder ein Stück Wegs gemeinsam ging, wurde die Sozialdemokratie von Anfang an heftig bekämpft. Zwei Attentate auf den Kaiser legte er, trotz fehlender Verbindung, der SPD zur Last und drängte den Reichstag zur Annahme des "Sozialistengesetzes" im Oktober 1878, dem so genannten "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie", das ein Verbot sozialistischer Vereine, Versammlungen, Druckschriften und die Ausweisung sozialdemokratischer Führer vorsah.


    In dieser Entwicklungsphase wurde der Staatssozialismus Ferdinand Lassalles (1863 "Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein") durch die marxistische Richtung verdrängt. Karl Marx (1818-1883), Sohn des 1824 protestantisch gewordenen Juden Heinrich Marx, hatte sich ideologisch durch die Berührung mit den Franzosen Saint-Simon und Fourier und durch die Freundschaft mit Friedrich Engels vom Hegelianer zum Kommunisten entwickelt, der das demokratische Ideal der politischen Gleichheit zu dem der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Gleichheit erweiterte.

    Frucht seiner volkswirtschaftlichen Studien ist bereits das Kommunistische Manifest von 1848; gekrönt wurden sie durch das unvollendet gebliebene Hauptwerk "Das Kapital", an dem Marx seit den 50er Jahren im Londoner Exil gearbeitet hatte und dessen erster Band 1867 erschien. Es sollte den Nachweis erbringen, dass die gesamte Geschichte der Menschheit eine Geschichte der wirtschaftlichen Veränderungen sei, die sich in Klassenkämpfen ausdrücke. An ihrem Ende aber stehe die Kulmination des Reichtums in immer weniger Händen bei zunehmender Verelendung der Massen - ein Zustand, der durch Revolution und die Diktatur des Proletariats beseitigt werde, die zur Gleichheit aller in der klassenlosen Gesellschaft führe.

    1869 gründeten August Bebel und Karl Liebknecht in Anlehnung an die Lehren von Marx die Sozialdemokratische Partei. Die Sozialdemokraten waren revolutionär, antikirchlich (Marx: "Religion ist das Opium des Volkes"; Altar stützt den Thron), antimonarchisch, republikanisch-demokratisch und damit gegen die bestehende Gesellschaftsordnung eingestellt.


    Bismarck dagegen war kirchlich-protestantisch, konservativ und obrigkeitsstaatlich. Folgerichtig sah er in der Sozialdemokratie den Todfeind seiner Reichsgründung.

    Doch erkannte er auch in den wirtschaftlichen Notständen, die durch den aufkommenden Industrialismus und Kapitalismus für die Arbeiter entstanden waren, die ernsteste Gefahr für den Staat. Ihr versuchte er durch Gesetze zu begegnen, die auch von bürgerlich-religiösen Sozialbewegungen wie dem Kathedersozialismus und den evangelisch- und katholisch-sozialen Bewegungen (Innere Mission, Kolpingbewegung, Caritas) befürwortet wurden. Die Kaiserliche Botschaft an den Reichstag von 1881 kündigte Schutzmaßnahmen für Arbeiter an. 1883 folgte das Gesetz über Krankenversicherung, 1884 das Sicherungsgesetz, 1889 die Alters- und Invalidenversicherung. Auch Gesetze für den innerbetrieblichen Arbeiterschutz wurden erlassen. Bismarcks parlamentarische Hilfsfront aber, das "Kartell" der Konservativen und Nationalliberalen, geriet durch das Anwachsen von Zentrum und SPD in die Minderheit und zerbrach über der Frage der Verlängerung des Sozialistengesetzes (Ablehnung durch die Nationalliberalen). Der junge Kaiser, Wilhelm II., wünschte die "Vormundschaft des Alten" abzuschütteln und benutzte die günstige Gelegenheit. Er lehnte die sozialistenfeindliche und antiparlamentarische Gewaltpolitik Bismarcks ab. So kam es am 20. März 1890 zu Bismarcks Entlassung.