Geschichte: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

    Aus WISSEN-digital.de


    In der Zerfallzeit des Karolingerreiches hatte sich im Ostfränkischen Reich das so genannte jüngere Stammesherzogtum als weitgehend souveräner Territorialstaat herausgebildet. Der fränkische König Konrad I. (911-919) besaß kaum mehr reale Macht, als ihm aus seinem eigenen Herzogtum zukam. Auch sein Gegner und Nachfolger, der von ihm designierte Sachsenherzog Heinrich I. (919-936), herrschte praktisch nur über Franken und Sachsen; die übrigen tragenden Stämme des Reiches, die Bayern, Schwaben und Lothringer, erkannten ihn nur formell als Gesamtherrscher an. Sie wahrten aber den Zusammenhalt des Ostfränkischen Reiches und ermöglichten so ein Zusammenwachsen der Stämme zum deutschen Volk.


    Im Mittelalter waren Reichweite und Einfluss einer politischen Institution in viel höherem Maße von der Leistung und dem Ansehen ihres Trägers abhängig als in neuerer Zeit. Dies gilt in besonderer Weise für die königlich-kaiserliche Gewalt im ostfränkisch-deutschen Reich. So war das Ansehen, das der bescheidene, nüchtern denkende Herzog Heinrich von Sachsen als Heinrich I. (919-936) dem deutschen Königtum erworben hatte, eine verlässliche Grundlage gewesen, auf der sein Sohn und Nachfolger Otto I. weiterbauen konnte.

    Aber Otto, 912 geboren, 936 auf Heinrichs Empfehlung zum König gewählt, begnügte sich nicht mit dem bescheidenen Rang, den sein Vater in der nur teilweise gesicherten, nicht von allen Stämmen anerkannten Königswürde erreicht hatte. Er strebte eine echte renovatio Imperii an, die Wiedergeburt der karolingischen Königs- und Kaisermacht.

    In seinem Verlangen, als König in seiner Stellung gewürdigt zu werden, war Otto unbeugsam. Als 937 Herzog Arnulf von Bayern starb und dessen Söhne als Nachfolger in der Herzogswürde Otto die gebotene Huldigung verweigerten, ließ er sie in schnellem Zugriff vertreiben und durch Arnulfs Bruder Berchthold ersetzen. Auch gewann er bei dieser Gelegenheit das Recht zurück, die bayerischen Bistümer selbst zu besetzen. Außerordentliche Härte und Ausdauer zeigte der König beim Niederschlagen eines Aufstandes von Mitgliedern der königlichen Familie, als sein Stiefbruder Thankmar im Bund mit Eberhard von Franken, dem Bruder Heinrichs I., den Versuch unternahm, ihm die herzogliche wie die königliche Stellung streitig zu machen. Thankmar verlor in diesem Kampf das Leben, aber immer noch drohte im Schoß der Familie aus den Ansprüchen seines leiblichen Bruders Heinrich die Gefahr der Rebellion. Heinrich, Eberhard und der lothringische Herzog Giselbert, der sich - ähnlich wie die Bayernfürsten - der königlichen Gewalt entziehen wollte, verbündeten sich 939 erneut gegen Otto; wobei der Lothringer nach Frankreich hinüberblickte, bereit, die bedeutungslose Obergewalt des schwachen französischen Königs den straffen Zügeln des deutschen Herrschers vorzuziehen.

    Das Heer der Empörer wurde jedoch bei Andernach durch die Truppen des loyalen Herzogs Hermann überrascht und besiegt; Giselbert und Eberhard fanden beide den Tod. Heinrich blieb nur die Unterwerfung übrig. Spätere Mordpläne misslangen, die Gewalt des Königs hatte dank Ottos Ausdauer die Sonderrechte der Herzöge und der Thronprätendenten überwunden. In Lothringen setzte Otto seinen Schwiegersohn Konrad den Roten ein, den Gemahl seiner Tochter Luitgard; mit einer großzügigen Geste der Versöhnung gab er Bayern an seinen Bruder Heinrich, Liudolf wurde als Gemahl der schwäbischen Erbin Herzog von Schwaben.


    Im Bestreben, die Stellung des Königs auch noch durch andere als nur familiäre Bande zu sichern, griff Otto I. auf die Kirche zurück, die schon die Stütze der karolingischen Reichsgewalt gewesen war. Mehr als die eigenwüchsig gewordene Grafengewalt, die den Beamtencharakter der karolingischen Zeit längst abgestreift und sich zu einer partikularen Macht im Lehnssystem ausgebildet hatte, schien die Kirche geeignet, eine Säule des Königtums zu werden. Noch erschien dem Zeitgenossen der König als geheiligte Person, als Stellvertreter Christi im Bereich der weltlichen Herrschaft. Die Königsweihe wurde als Sakrament verehrt. In solcher Stellung leitete der König die Synoden, bestellte die Bischöfe und Reichsäbte und regelte innere Fragen der Kirche aus eigener Machtvollkommenheit. Bischöfe und Äbte, durch königliche Schenkungen zu riesigem Grundbesitz gelangt, leisteten dem König Heeresfolge zur Reichsheerfahrt, dienten ihm bei der Erfüllung politischer Missionen und sorgten zu ihrem Teil für den Haushalt des Hofes.

    Diese Verhältnisse, die sich im Laufe der Entwicklung von selbst herausgebildet hatten, erhielten durch Ottos Maßnahmen nach außen hin rechtliche Gültigkeit und letzte Vollendung. Den geistlichen Herren wurden auf ihren Territorien Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt sowie Grafschaftsrechte verliehen; ihr Gebiet wurde aus der übergeordneten Rechts- und Machtsphäre der Herzöge und Grafen herausgenommen. Damit war ihnen nunmehr echter Hoheitscharakter unmittelbar vom Herrscher verliehen. Diese Machterweiterung kam der königlichen Gewalt direkt zugute. Die Abhängigkeit der geistlichen Würdenträger von der Zentralgewalt war durch das königliche Ernennungsrecht bedeutend größer als die der weltlichen.

    Die so gefestigte Ordnung im Inneren des Reiches bedurfte der Sicherung nach außen: Otto stellte das Grenzmarkensystem Karls des Großen wieder her, indem er das Reich durch die Begründung der Billunger Mark unter Hermann Billung und der Mark zwischen Saale und Elbe unter Gero nach Osten hin sicherte. Diese beiden Markgrafen bewährten sich hervorragend in der Slawenabwehr. Sie zwangen nicht nur die staatlich noch ungeordneten slawischen Teilstämme zur Aufgabe ihrer Raubzüge nach Westen, sondern schoben auch das Herrschaftsgebiet der Deutschen bis zur Oder vor und schufen auf diese Weise ein Vorfeld der Sicherung für die Kernlande.

    Der 954 brennend, raubend und mordend in Deutschland eingefallenen Ungarnscharen wurde der König 955 in der Schlacht auf dem Lechfeld Herr. Die Ungarn wagten forthin keine Einfälle von Bedeutung mehr. Sie wurden sesshaft, nahmen das Christentum an und wurden so selbst zu einem Teil des christlich-abendländischen Kulturkreises.

    Der Ruhm der Schlacht brachte dem König den Beinamen "der Große" ein, zumal es ihm danach in kurzer Frist auch gelang, die neuerdings aufständischen Slawen östlich der Elbe zu unterwerfen.


    Um so wichtiger war es nun, auch in Italien endgültig gefestigte politische Verhältnisse zu schaffen. Berengar von Italien, Ottos Lehnsmann, benutzte erneute Wirren in Rom und die Berufung des Adligen Oktavian als Johann XII. auf den Papststuhl, um durch einen Angriff auf den Kirchenstaat sein italienisches Machtgebiet zu vergrößern. Aber Johann XII., ein kluger politischer Spieler, rief in sicherer Einschätzung der Lage Otto I. zu Hilfe. Ende Januar 962 stand das deutsche Heer vor Rom, Berengar war vertrieben und hatte sich mit seinen Anhängern auf festen Burgen verschanzt. Am 2. Februar 962 wurde Otto zum Kaiser gekrönt und damit die karolingische Reichstradition wieder erneuert.

    Im Vertrag, den die beiden Repräsentanten der höchsten Gewalten miteinander schlossen, wurde der weltliche Besitzstand des Papstes erheblich erweitert, aber auch die Rechte des Kaisers bei der Wahl des Papstes und in der Verwaltung und Rechtsprechung des Kirchenstaates festgelegt. Sobald freilich der Kaiser die Stadt wieder verlassen hatte, um sich Berengars Schlupfwinkeln zuzuwenden, kam es zu einer Verschwörung Johanns mit dem Sohn Berengars. Denn beide fürchteten nun den mächtigen und energisch die italienischen Verhältnisse ordnenden Herrscher noch mehr als zuvor einander. Der Gegenschlag Ottos folgte sofort. Er kostete Berengar die Reste seiner Macht und Johann XII. die päpstliche Würde. Bei der Wahl seines Nachfolgers machte der Kaiser erstmals von seinen Rechten aus dem Romvertrag Gebrauch: Vor der Weihe bedurfte die Wahl der kaiserlichen Zustimmung; der Gewählte aber gab pflichtgemäß ein Treueversprechen, das ihn als höchsten Lehnsmann des Kaisers auswies.

    Titel und Herrschaft des Kaisers in Italien fanden nach mancherlei Zwischenfällen auch oströmische Zustimmung durch die Vermählung des Thronfolgers mit der byzantinischen Prinzessin Theophano; die Hochzeit wurde Ostern 972 in der Peterskirche gefeiert. Der Kaiser starb im folgenden Jahr.

    Als unter Heinrich IV. (1056-1106) der große Kampf zwischen Kaiser und Papst begann und das Deutsche Reich in seinen Grundfesten erschüttert wurde, zeigte sich deutlich die Schwäche des ottonischen Systems. Mit der Wahl Rudolfs von Schwaben zum Gegenkönig wichen die Großen des Reiches zum erstenmal vom Grundsatz der geblütsrechtlich bestimmten Wahl ab und schritten zur freien Königswahl (1077).

    Heinrich IV., der Stütze einer geschlossen zu ihm haltenden Reichskirche beraubt, versuchte die Anlehnung bei den Städten und beim Volk durch seine Landfriedensgesetzgebung (erster Reichslandfriede von 1103, auf vier Jahre in Mainz verkündet), die das Fehdewesen des Rittertums eindämmen sollte. Die Landfriedensbewegung, von der Kirche hinfort als eigenes Anliegen aufgegriffen, gewann im Gange der Entwicklung große Bedeutung (Landfrieden Friedrichs I. von 1152, Reichslandfrieden von Roncaglia 1158; Mainzer Reichslandfrieden Friedrichs II. von 1235), aber auch sie diente letzthin nicht der Stärkung der Zentralgewalt. Auch der erste Herrscher der Staufer-(Hohenstaufen-)Dynastie, Konrad III. (1138-1152), wurde nach dem neuen Recht der freien Wahl zum König erhoben. Die Gefahr, dass nach Laune des Hochadels und auf päpstlichen Befehl jederzeit Gegenkönige erhoben werden konnten, schwächte die königlich-kaiserliche Stellung von innen her ebenso wie das Fortschwelen des Gegensatzes zwischen Kaisertum und Papsttum.


    In der Stauferzeit begann daher das Königtum, sich mehr und mehr auf die Grundlage seiner Hausmacht zu besinnen. Damit bahnte sich die für Deutschland so folgenschwere Entwicklung vom lehnsgegründeten Personenverbandsstaat zum Territorial-Staat an. Dieser stützte sich in seiner letzten Ausformung nicht mehr auf das Treueverhältnis der Lehnsordnung, sondern auf eine Machtorganisation des Landesfürsten. Als deren Hauptsäulen entwickelten sich Söldnerheer und Beamtentum.

    Kaiser Friedrich I. (Barbarossa; 1152-1190) tat die ersten Schritte auf diesem Weg durch den Vergleich mit den Babenbergern im Privilegium minus von 1156. Sachsen und Bayern wurden welfische Hausmacht, Österreich wurde als Ostmark von Bayern getrennt und den Babenbergern als Herzogtum zugesprochen. Dabei wurden die Lehnspflichten des ehemaligen Markgrafen und neuen Herzogs Heinrich dem Reich gegenüber in einer Weise eingeschränkt (Heeresfolge z.B. wurde nur noch für den Kampf in unmittelbar angrenzenden Gebieten verlangt), dass seine Stellung fast einer völligen Selbstständigkeit gleichkam.

    Nach dem erneuten Kampf mit Heinrich dem Löwen wurde dessen Hausmacht die stärkste im Reich - zerschlagen und in mehrere kleinere Gebietsherrschaften aufgeteilt. Die Wittelsbacher in Bayern, der Erzbischof von Köln und die Askanier in Brandenburg waren dabei die Hauptnutznießer. Aber auch die Gebietsherrschaften von Braunschweig (1235), Würzburg (1168) und der Steiermark (1180) entstanden in der staufischen Epoche. Auf diese Weise wurde die überkommene Gliederung des Reiches nach Stammesherzogtümern aufgelöst zugunsten einer von dynastischen Erwägungen bestimmten territorialen Neuordnung, die mit einer völligen Zersplitterung des Reichsgebietes endete. Als Friedrich Barbarossa aus dem Geschlecht der Staufer die Regierung übernahm, war die Lage im Heiligen Römischen Reich in vieler Hinsicht völlig anders als zur Zeit Ottos I. Das Lehnswesen beherrschte bis in die letzten Verästelungen des staatlichen Aufbaus hinein das Bild, die partikularen Gewalten hatten an Sonderrechten und Beharrungsvermögen gewonnen, der Einfluss des Königs in der Lehnshierarchie war wesentlich geringer geworden als in der ottonischen Zeit. Schon aber gab es Anzeichen dafür, dass in der Entwicklung des Feudalsystems der Höhepunkt erreicht, ja sogar überschritten war. Mit dem Aufstieg der Städte, vor allem der oberitalienischen, war eine neue politische Kraft ins Spiel gekommen, die der Vorstellungswelt des Lehnswesens konkurrierend gegenübertrat.


    Noch tiefergreifende Wandlungen hatte die Kirche erfahren. Aus ihrer bedrohten Lage in der ottonischen Zeit, als sie auf den Schutz des Kaisers angewiesen war, hatte sie längst herausgefunden. Im geistlichen wie im imperialen Raum hatte sie sich zur ebenbürtigen, ja, wie der Verlauf des Investiturstreites zeigte, zur überlegenen, in sich ruhenden Macht entwickelt, die dem Kaiser Schach bieten und ihn oft genug zur Unterwerfung unter ihren Willen zwingen konnte. Das ottonische Kirchensystem war zerbrochen, die hohen geistlichen Würdenträger waren längst nicht mehr die verlässlichen Stützen der kaiserlichen Gewalt.

    Am Gegensatz zu Heinrich dem Löwen, dem bedeutenden Führer in Nord- und Ostdeutschland, an dem Herrschaftswillen des Papstes Hadrian IV. (1154-1159), aber auch an dem Aufkommen der selbstbewussten und mächtig werdenden Städte Oberitaliens zerbrach das imperiale Streben Friedrich Barbarossas. Die eigene staufische Hausmacht, gestützt auf einen neuen, beamtenähnlichen Dienstadel, die "Ministerialen", hätte vielleicht ausgereicht, die Verhältnisse in Deutschland zu klären; für den Rahmen eines deutsch-italienischen Reiches aber reichte sie nicht aus.